»Auf einmal waren wir Ausländer«
Berleburger Jüdin Prof. Dr. Lucie Weinstein sprach gestern mit Hauptschülern der 8a
howe Bad Berleburg. Sie war 14 Jahre alt, als sie mit ihrer Familie vor den Nationalsozialisten flüchtete. Genauso alt wie heute die Schüler der Klasse 8a der Bad Berleburger Hauptschule. Verschiedene Generationen mit unterschiedlichen Sichtweisen des Lebens und Erfahrungen trafen sich gestern. Und das große Interesse an den Berichten der Bad Berleburger Jüdin Prof. Dr. Lucie Weinstein, geborene Krebs, war spürbar.
In den vergangenen Wochen hatten sich die Schüler gemeinsam mit Lehrerin Ulla Belz und der Bad Berleburger Stadt-Archivarin Ricarde Riedesel auf Spurensuche begeben und die Zeit des Nationalsozialismus in Berleburg genau untersucht. Zeitzeugen-Interviews im Familien- und Freundeskreis brachten erste Einblicke und Ergebnisse. Unterrichtsgänge verdeutlichten die Integration und das Leben der jüdischen Bevölkerung im frühen 20. Jahrhundert in Berleburg. Der gemeinsame Gang mit Ricarde Riedesel von der ehemaligen Synagoge zum heutigen Marktplatz führte den Schülern die Reichspogromnacht und die beginnende Entrechtung und Verfolgung deutlich vor Augen. Noch intensiver und tiefer nahmen die Hauptschüler das Geschehen in jener Zeit beim Gespräch mit Prof. Dr. Lucie Weinstein auf. 1924 geboren, in Bad Berleburg aufgewachsen – an der damaligen Adolf-Hitler-Straße, Nummer 5, der heutigen Ederstraße, hat Lucie Krebs gelebt. Die Familie war stets als deutsche angesehen. »Eines morgens werdet Ihr wach, auf einmal ist die ganze Identität weg«, schilderte Prof. Dr. Lucie Weinstein, die heute in den USA lebt. »Ihr seid auf einmal Untermenschen.«
In einer Nacht seien sie gekommen, die SA-Männer. »Sie warfen Steine durch unsere Fenster.« Ihre Mutter habe geschrien, die Kinder sollten sich unter der Bettdecke verstecken. »Es schien, als ob die ganze Stadt da stand. Jude verrecke haben sie geschrien.« Der Vater sollte verhaftet werden. Ein Glück, dass er gerade im Krankenhaus gelegen habe und operiert worden sei. Im Krankenhaus, wo jetzt das Berleburger Gymnasium steht, habe sich der Arzt, Dr. Hammer, vor die Nazis gestellt: »Ihr bekommt den Herrn Krebs nicht.« Nachdenkliche Gesichter, ergriffene Schüler folgten gestern den Erzählungen der Zeitzeugin. »Unser Leben war schön«, sagte Prof. Dr. Lucie Weinstein. Wunderbare Ausflüge habe sie als Kind unternommen, Lieder seien gesungen worden. »Auf einmal waren wir Ausländer.« Was Prof. Dr. Lucie Weinstein niemals vergessen wird: Es war ein Schultag im Dezember 1938. Der Tag der Flucht vor den Nationalsozialisten. »Die ganze Schulklasse stand am Bahnhof, als wir abfuhren.« Niemand, aber auch gar niemand habe sich gewagt, »Guten Tag« zu sagen. Oder irgend ein anderes Wort. Nicht mal die beste Freundin. »Das tat weh«, so Prof. Dr. Lucie Weinstein.
Nach Belgien ging die Reise. Später wanderte sie nach Amerika aus, lernte ihren Mann in Japan kennen. Sie lernte Flämisch, Französisch, Englisch, Japanisch, arbeitete als Dienstmädchen und in der Fabrik. Eine unglaubliche Lebenserfahrung hat die heute 79-Jährige. Und das Wichtigste davon gab sie gestern den Bad Berleburger Schülern mit auf deren Lebensweg: »Aufpassen, dass so etwas nie wieder passiert und Vorurteile vermeiden. Menschen als Menschen ansehen. Andere Leute, andere Sitten. Alle Sitten sind interessant.« Und noch etwas: »Besser immer etwas sagen als vertuschen.«
Autor:Archiv-Artikel Siegener Zeitung aus Siegen |
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