Ein Buch der Fragen, kein Buch der Antworten
Über das Erinnern sprach der Berliner Pfarrer Helmut Ruppel in Bad Laasphe auf Einladung von Kurseelsorge und christlich-jüdischem Freundeskreis
awe Bad Laasphe. Was wird, wenn die Geschichten verschwinden, die Juden und Christen teilen, möchte sich Helmut Ruppel lieber nicht vorstellen. »Es gibt eine Würdelosigkeit, die darin besteht, nicht mehr als sich selbst zu kennen«, sagt der Theologe. Er trägt eine ganze Menge Geschichten in seinem Gedächtnis, und viele flocht er ein in seinen Vortrag, für den er nach Bad Laasphe gekommen war. Dorthin hatten ihn die Kurseelsorge und der Freundeskreis für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit eingeladen. Helmut Ruppel hatte eine lange Anreise auf sich genommen, um mit seinen zahlreichen Laaspher Zuhörern über das Erinnern zu sprechen: Ruppel ist Pfarrer in Berlin und dort außerdem Studienleiter in der Ausbildung für Religionslehrer.
Sicht der Schwächeren nie vergessen
Im Christentum werde – wie im Sozialismus – die Welt aus der Sicht der Opfer und der Schwachen gelesen. Eine Lesart, die nach Ansicht des Berliner Pfarrers nicht verschwinden dürfe. Und Kirchen seien wie Synagogen die Erinnerungswerkstätten, die diese Lesart lebendig erhielten. Traditionell werden in den Synagogen und in den Kirchen die Geschichten, Bilder und Lieder überliefert, in denen Leben gerettet wird. Das dürfe nicht verschwinden: »Ohne Überlieferung bleibt nur die Hoffnungslosigkeit.« Dazu gibt es natürlich eine Erzählung, eine der vielen jüdische Beispielgeschichten, von denen die Laaspher Zuhörer an diesem Abend was lernen konnten: Um die Menschen vor einer drohenden Gefahr zu retten, ging ein Großrabbi an eine bestimmte Stelle im Wald, entzündete dort ein Feuer und sprach ein bestimmtes Gebet. Und Gott verschonte die Menschen. Der Nachfolger dieses Großrabbi stand Jahre später vor einem ähnlichen Problem. Allerdings kannte er nur noch ungefähr die Stelle im Wald und die Worte des Gebets, ein Feuer entzünden konnte er schon gar nicht mehr. Aber auch seine angelehnte Bitte um Verschonung wurde erhört. Ein noch späterer Nachfolger wusste nichts mehr von der Stelle im Wald, aufs Feuermachen verstand er sich auch nicht und die Worte des Gebets, mit dem er die neuerliche Gefahr abwehren konnte, waren ihm völlig fremd. Aber er kannte diese überlieferte Rettungsgeschichte, und allein die Erinnerung, auf die er sich vor Gott berief, genügte, um Verschonung zu erwirken.
Sich etwas zu Herzen zu nehmen
Erinnern sei oft gebunden an Orte und an Schauplätze, meinte Helmut Ruppel. Und in der jüdischen Vorstellung spiele das Erinnern eine ganz besondere Rolle. Das Herz gelte in dieser Tradition als Sitz der Erinnerung, dort verorte die Bibel auch Vernunft und Gewissen. Biblisch gesprochen bedeute Erinnern, sich etwas zu Herzen zu nehmen. Dabei gehe es überhaupt nicht darum, Dinge zu bejammern oder zu vergolden. Es gehe darum, die Vergangenheit scharf in den Blick zu nehmen, zu fokussieren. Beten sei im jüdischen Verständnis auch ein Vorgang, bei dem man Gott daran erinnert, wie er in der Vergangenheit gehandelt habe – in seinen Abenteuern mit Abraham und Isaak oder Mose – und sich auf diese Präzedenzfälle beruft. Die Bibel sei eine Sammlung von Erinnerungstexten – die eben auch diese Trotz-Energie gegenüber dem Allmächtigen und dem Leben befeuern kann. Und die Kirchen und Synagogen hätten dann die Aufgabe, diese Erinnerungen zu bewahren und weiter zu geben. Denn nichts sei schlimmer, als eine Gesellschaft, der die Erinnerungen – und damit auch die Träume für die Zukunft –– verloren gegangen seien.
Die Vergangenheit liegt vor einem
Für das christlich geschulte Denken klingt dies vielleicht ein wenig kompliziert: In der jüdischen Vorstellung ist die Vergangenheit, das was vor einem liegt, was man überblicken kann. Dort gelte nicht: Was geschehen ist, ist geschehen. »Wenn die Juden ihr Pesachfest beginnen, ist jeder Teilnehmer quasi beim Auszug aus Ägypten dabei«, sagt Helmut Ruppel. Diese alte Geschichte ist schließlich die Antwort auf die Frage des jüngsten Familienmitgliedes, mit dem die Feier beginnt: »Was ist an diesem Abend so besonders?« Besonders an dem Abend mit Helmut Ruppel war mit Sicherheit die ein wenig ungewohnte Sichtweise, in der man unterwiesen wurde. Lernen dürften die Thora-Studenten übrigens immer nur zu zweit oder noch besser zu dritt: Im Gespräch, in Frage und Antwort bilde sich nämlich im besten Fall eine Meinung heraus. »Die Bibel ist meiner Ansicht nach ja auch ein Buch der Fragen, nicht der Antworten. Wenn bei Gott die Wahrheit ist, ist es die Aufgabe der Menschen, sie zu suchen«, erklärte Ruppel. Gut ist es, wenn man dann schon mal aus der Erinnerung weiß, wo es sich zu suchen lohnt.
Biblische Texte und Berliner Orte
Wer Helmut Ruppel sucht, kann fündig werden auf dem Kirchentag in Berlin. Für diesen hat er unter anderem ein eigenes Erinnerungsbuch verfasst, in dem es um biblische Texte und Berliner Orte geht.
Wer sich mit diesem Buch auf den Weg durch Berlin macht, stößt mit Sicherheit auf Schauplätze der jüngeren Geschichte, die auch zur gemeinsamen Erinnerung jüdischer und christlicher Menschen gehören und erinnert werden müssen.
Autor:Archiv-Artikel Siegener Zeitung aus Siegen |
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