Schweigsamer Held: Wie ein Eisenbahner in der Nazi-Zeit Zivilcourage bewies
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Falsches Reichsbahner-Dokument. Es gibt Hella Zacharias als Kittels Frau aus.
© Quelle: Privat
Berlin. Irgendwann vor ein paar Jahren hatte Esther Dischereit das Gefühl, jetzt müsse sie endlich etwas unternehmen. Ein Name und zwei Orte spukten schon ewig in ihrem Kopf herum. Kittel war der Name, die Orte hießen Sorau und Heringen.
Dischereit ist 70 Jahre alt. Als Lyrikerin und Theaterautorin hat sich die in Heppenheim geborene Künstlerin einen Namen gemacht. Sie ist im besten Sinne unbequem. Ihre jüdische Mutter Hella und ihre 16 Jahre ältere Schwester Hannelore sind dem Holocaust entkommen. Sie waren 1942 untergetaucht und von Berlin aus auf der Flucht vor ihrer Deportation.
Sie bewegten sich dabei mit der Bahn durch Deutschland. Nirgendwo konnten sie lange bleiben. Unabhängig von ihnen waren Hellas erster Mann Felix Zacharias, Hannelores Vater, und ihre Großeltern auf getrennten Wegen auf der Flucht.
Den Namen Fritz Kittel hatte Esther Dischereit, Tochter aus zweiter Ehe von Hella, erstmals als Kind aufgeschnappt, als sie mal wieder wegen der Gespräche der Erwachsenen weggeschickt worden war. Er tauchte immer wieder in den Erzählungen auf. „Wer ist Fritz Kittel?“, fragte sie später.
Dann erfuhr die junge Frau, dass sie nur existiert, weil Fritz Kittel das Richtige tat: Der einfache Eisenbahner – Güterbodenarbeiter – hatte ihre Mutter und ihre Schwester vor dem sicheren Tod in einem Vernichtungslager der Nazis geschützt. Dies stand in den Berichten ihrer Mutter Hella an die Entschädigungsbehörden in den 1950er-Jahren.
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Lokomotive eines Personenzuges mit Besuchern der Olympischen Spiele Berlin 1936 auf dem Anhalter-Bahnhof in Berlin.
© Quelle: picture alliance / akg-images
Wanderausstellung
Wie und warum es dazu kommen konnte und was Kittel nach dem Krieg selbst dazu sagte, darum dreht sich die gerade im Berliner Technikmuseum eröffnete Wanderausstellung der Historischen Sammlung der Deutschen Bahn AG „Wer war Fritz Kittel – ein Reichsbahnarbeiter entscheidet sich“, die dort bis Ende April gezeigt wird. Nächster Halt ist Chemnitz.
Im Lokschuppen des Museums sind Zeugnisse der Geschichte von Fritz Kittel und den Angehörigen Dischereits zu sehen. In Holzschubladen finden sich persönliche Gegenstände wie der gefälschte Reichsbahnausweis, der Mutter und Tochter damals auf Betreiben Kittels ausgestellt wurde. Dokumente, Objekte, Filme und Biografien wechseln mit literarischen Texten der Autorin Dischereit, die ihre Suche künstlerisch verarbeitet und dabei Erklärungen liefert.
Entschädigungen für Reichsbahn-Fahrt in den Tod: „Wer es ernst meint, der zahlt auch etwas“
Die Niederländische Bahn entschädigt niederländische Holocaustopfer und ihre Angehörigen für die Deportationen in die Vernichtungslager auf dem Schienenwege bis zur deutschen Grenze. Durchgesetzt hat dies der Niederländer Salo Muller, der als Kind versteckt wurde und die Shoa überlebte. Nun strebt er ähnliche Entschädigungen durch die Deutsche Bahn AG oder die Bundesrepublik an – wir sprachen darüber mit seinem Anwalt Axel Hagedorn.
Eingeordnet ist dabei die unrühmliche Geschichte der Deutschen Reichsbahn, die in der Nazi-Zeit fast 600.000 Mitarbeiter beschäftigt hatte und jedem ins KZ deportierten Juden noch ein Ticket dritter Klasse, einfache Fahrt, bezahlen lässt. Ohne die logistische Dienstleistung der Reichsbahn wäre den Nazis die Deportation von Millionen von Juden, von Sinti und Roma nicht gelungen. Diese Fahrten in den Tod blieben zwar, wie vieles andere auch, nicht unbemerkt. Doch nur wenige leisteten Widerstand. So wie Fritz Kittel.
Dischereit wollte mehr herausfinden über diesen Mann und seine Beweggründe, wollte sich bedanken bei seiner Familie. Doch wo anfangen? Sie begann die Suche im hessischen Heringen an der Werra. Hier waren Mutter und Schwester von den Amerikanern gerettet worden.
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Esther Dischreit.
© Quelle: Bettina Straub
Reise in die Vergangenheit
Mit ihrem Anruf bei Peter Kittel, einem Arbeiter im Kalischacht von K & S und Enkel von Fritz, verstörte Dischereit die Familie zunächst. Denn der wortkarge Eisenbahner hatte bis zu seinem Tod kein einziges Wort über seine Rettungstat verloren.
Zusammen mit Dischereit durchforsteten sie den Nachlass des Vaters und Großvaters. Auch in den Archiven der Reichsbahn findet sich nichts zu Kittel. So beginnen die Familien von Esther Dischereit und die Nachfahren Fritz Kittels 2019 eine zweijährige Reise in die Vergangenheit, durch Archive und Orte. Sie finden dabei vieles heraus, aber beileibe nicht alles.
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Der Eisenbahner Fritz Kittel in den 1960er-Jahren.
© Quelle: Privat
Kittel beispielsweise stammt aus Sorau in der Niederlausitz, heute die rund 40.000 Einwohner zählende polnische Stadt Zary an der Grenze zu Deutschland. Hier, im Lazarettweg 1, kommen Hella und ihre Tochter Hannelore im September 1944 bei Fritz Kittel unter. Es war schon der dritte Fluchtort in der Stadt, die über ein paar halbwegs sichere Adressen für sie verfügte. Wie die drei Menschen zusammenfanden, das ist bis heute ungeklärt, so Dischereit.
Ihre Schwester Hannelore berichtet in einem Video aus dem Jahr 2005, dass sie als damals Achtjährige in Sorau zur Schule musste, was ihr schwerfiel, da sie ja in den letzten Monaten nur auf der Flucht gewesen sei. Die sonntäglichen Pftlichtbesuche in der Kirche gefielen ihr dagegen. Und: Sie mussten immer irgendwie auf der Hut sein. Dann stand die Sowjetarmee vor Sorau.
Letzter Zug
Fritz Kittel, der Hella zu seiner Frau und Hannelore zu seiner Tochter hatte erklären lassen, überredete sie, mit ihm nach Heringen zu flüchten, wo er von der Bahn hinbeordert worden wäre. Hella wollte sich eigentlich von den Russen befreien lassen, doch sie nahm mit Fritz und Hannelore den letzten Zug nach Deutschland.
Hier erhielt die Jüdin am 23. März 1945 auf Betreiben von Fritz Kittel ein amtliches Personendokument der Deutschen Reichsbahn als „Ehefrau des Gb. Vorarbeiters Fritz Kittel“. Ein falsches, aber lebensrettendes Papier. Dischereit mahnt deshalb mit Blick auf die Fluchtbewegungen in dieser Zeit, auch heute den Blick nicht dafür zu verlieren, wie wichtig für manche Menschen auf der Flucht illegale Dokumente seien.
Der gemeinsame Weg von Fritz, Hella und Hannelore endete in einem Bunker am Ortsausgang von Heringen. Die Amerikaner waren schon zu hören. Kittel meinte, es sei sicherer, mit den anderen in den Bunker zu gehen. Als die Panzer ganz nah waren, fasste Hella ihre Tochter an der Hand und stürmte hinaus. Dem ersten Amerikaner sagte sie: „Wir sind Juden, helfen Sie uns!“ Ein Commander erklärt sie zu Schutzbefohlenen der Befreiungsarmee. Sie haben den Holocaust überlebt, in dem die Nazis schätzungsweise sechs Millionen Juden ermorderten.
„Opa hat nie davon erzählt“
„Der Opa hat nie davon erzählt“, sagte Peter Kittel. Seine Tante Ernestine berichtet von ihrem Vater als bescheidenen, schweigsamen Mann. „Der wollte nie etwas für sich, der wollte seine Ruhe.“ Mit den Kindern habe er gern Quatsch gemacht. Aber ein Held?
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Bahnchef Richard Lutz (3. von links) im Gespräch mit den Nachfahren von Fritz Kittel. Die Zweite von links ist seine Tochter Ernestine, rechts neben Lutz ist Kittels Enkel Peter.
© Quelle: RND
Bahnchef Richard Lutz ist bewegt von der Geschichte, die die Familien recherchiert haben. „Nur wenige der vielen Reichsbahnbeschäftigten setzten sich ein wie Fritz Kittel. Sein Beispiel sollte anregen, darüber nachzudenken, wie wir uns heute verhalten und was wir täglich tun.“ Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, sagt: „Fritz Kittel ist Mensch geblieben, indem er nicht mitmachen wollte.“
Hellas erster Mann und Hannelores Vater, Felix Zacharias, überlebte ebenfalls den Holocaust. Insgesamt wurden 15 Angehörige der Familie von Esther Dischereit von den Nazis ermordet. Fritz Kittel, Hella und Hannelore sahen sich nach dem Ende des Krieges nie wieder.