Alte Songs in neuer Intimität

„Songs of Surrender“ – U2 entzünden ein musikalisches Lagerfeuer

Eine Megaband hat ihre Songs abgespeckt: Die irische Gruppe U2 (von links Larry Mullen Jr., Bono, The Edge und Adam Clayton) veröffentlicht heute ihr Album „Songs of Surrender“.

Eine Megaband hat ihre Songs abgespeckt: Die irische Gruppe U2 (von links Larry Mullen Jr., Bono, The Edge und Adam Clayton) veröffentlicht heute ihr Album „Songs of Surrender“.

Ein Lied ist nicht nur ein Lied, es gibt oft viele Varianten. Es gibt die Liveversion (elektrisch, akustisch), die Orchesterversion, die Demoversion (noch unfertige Studioaufnahme), die Remixversion, also die beatmäßige Bearbeitung eines Lieds für die Clubs, und die Coverversion, also seine Aufnahme und Neuinterpretation durch jemand anderen. Das sind einige der wichtigsten Versionsmodelle, von jedem kann es mehrere geben. Aber es gibt nur eine Originalversion – die amtliche Studioversion.

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Im Regelfall. Manchmal gibt es frühe Veröffentlichungen, die nicht zünden und überarbeitet werden, bis sie Hitformat haben – wie bei Men at Works „Down Under“ oder a-has „Take on Me“. Ist die amtliche Version dann aber raus – dann gilt sie als Originalversion. Weitere Studioeinspielungen sind unnötig.

Die irische Band U2 aber hat jetzt im Studio unter dem Titel „Songs of Surrender“ (Lieder der Hingabe) gleich 40 „Neuinterpretationen“ von Hits, Klassikern und weniger bekannten Stücken aus ihrem umfangreichen Oeuvre eingespielt. Es war sozusagen der Corona-Job der Gruppe – vor allem von Gitarrist The Edge, der als Produzent fungiert, und Sänger Bono.

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Eine „zweite Studioversion“ macht in der Regel wenig Sinn

„Zweite Studioversionen“ sind schon vor einiger Zeit aufgekommen, machen aber nur bedingt Sinn. Das zweite „Rock You Like a Hurricane“ der Scorpions von 2011 beispielsweise war zwar kraftvoller und dynamischer im Sound, auf Metalpartys aber wird wohl immer die Ersteinspielung von 1984 bevorzugt werden. Logisch erschien es allerdings, die Scorpions-Hymne „Wind of Change“ (1991) auf einen Ost-West-Neubeginn unter dem Eindruck von Putins Überfall auf die Ukraine zu modifizieren. Mit der Zeile „Now listen to my heart / It says Ukrainia / Waiting for the wind to change“ stellen die Hannoveraner ihren größten Hit weiterhin in den Dienst des Friedens.

Auf der Songliste des heute erscheinenden Vier-Alben-Werks von U2 findet sich zumindest ein ähnlicher Song, der ein zweites Original inhaltlich sofort nachvollziehbar macht. Die Ballade „Walk On“ war 2000 ein musikalischer Mutmacher der Iren für die myanmarische Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi gewesen, die von 1989 bis 2010 wegen ihrer prodemokratischen Aktivitäten unter Hausarrest stand.

Als Premierministerin schwieg sie dann später zum Völkermord der Militärs ihres Lands an den muslimischen Rohingya, weshalb U2 den Song dann ab 2017 den Verfolgten verliehen. 2022 schließlich wurde „Walk On“ aus gegebenem Anlass in „Walk On (Ukraine)“ umbenannt und mit einem neuen Text versehen. Die 77-jährige Aung San Suu Kyi bekommt ihn wohl nicht mehr zurück – auch nicht, nachdem sie 2021 von den Militärs erneut unter Hausarrest gestellt und am Ende mehrerer Prozesse der Junta im Vorjahr zu 33 Jahren Haft verurteilt wurde.

„Songs of Surrender“ kommt einem Unplugged-Album nahe

Über die Flexibilität musikalischer Widmungen könnte man nun trefflich diskutieren. Musikalisch ist das neue „Walk On“, die von einer Akustikgitarre getragene, später von Chorgesang und Piano unterstützte Version rauer und zugleich anmutiger als das geschliffene Original dieses Quasititelsongs vom Album „All That You Can‘t Leave Behind“ (2000).

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Ähnlich spartanisch klingt alles hier. Die Dublin Four, die in Konzerten immer wieder akustische Sets einbauten, liefern mit „Songs of Surrender“ spät ihr (Weitgehend-)Unplugged-Album – nur ohne Publikum. Klampfe und Klavier dominieren, Schlagzeug und Bass werden bei Bedarf eingesetzt. Nicht nur „Stuck in A Moment You Can‘t Get Out Of“ erinnert derart „stripped down“ an Songs aus der Folkära der Sechzigerjahre – an Dylan ohne E-Gitarre, an Simon & Garfunkel. Manchmal – wie bei „Red Hill Mining Town“ – eröffnet ein Keyboard, hier ziehen auch die wehmütigen Soulbläser von Trombone Shorty auf. Die größte Band der Welt wird – with a little help from their friends – zur kleinen Combo. Das ist … schön.

Es gibt andere Tempi, andere Akkorde, andere Texte

Es gibt keine Chronologie hier – man beginnt mit dem Liebesschwur „One“ von 1991, bei dem Schlagzeuger Larry Mullen zum Pianisten wird, und endet mit dem Psalmengesang „40″ von 1983. Manches klingt wie neu erfunden: „11 O‘Clock Tick Tock“ hat ein jazziges Flair, „Desire“ von 1988 wirkt über Bonos Falsett, als wär‘s ein Track aus dem funky Fundus von Prince. Es gibt Akkordwechsel, Tempiwechsel – sogar Textwechsel. Im treibenden „I Will Follow“ vom Debütalbum, lässt die früh verstorbene Mutter Bono los, statt ihn an die Hand zu nehmen. Die Frage, ob es nach den Varianten von „I Still Haven‘t Found What I‘m Looking For“ von 1987 und 1988 (mit Gospelintro) noch ein Update braucht, beantwortet Bono per Stimmlage. Matt und raunend klingt er, einer der offenkundig noch immer nicht genau weiß, wonach er eigentlich Ausschau hält.

Das klingelnde 80er-Jahre-Riffing von The Edge, die markanteste Soundsignatur von U2, wird vermisst. Beim Martin-Luther-King-Song „Pride (In the Name of Love)“ stöpselt er dann doch ein.

Mit den „Songs of Surrender“ möchte man Konzerte hören

Dass jede der vier Discs nach einem der Bandmitglieder benannt wurde, ist ohne tiefere Bedeutung – wohl nur der dezente Hinweis darauf, dass die Gruppe seit ihren Anfängen in gleicher Besetzung spielt. Dass es 40 Songs sind, korrespondiert mit Bonos jüngst veröffentlichter in 40 Kapitel aufgeteilten Memoiren. Wohl wurden insgesamt 50 U2-Lieder eingespielt, am Ende hätte man sich aber auch auf 20 Songs und eine Doppeldisc beschränken können.

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Indes ist die Megaband in diesem kargen Klanggewand endlich wieder mal überraschend und interessant – was sie nach dem Dance-Popanz „Pop“ von 1997 nie wieder wirklich war. Mit den „Songs of Surrender“ möchte man Konzerte hören – vor allem mit jüngeren wie „Cedarwood Road“ oder „Lights of Home“, deren Originale man noch nicht in der Kopfjukebox abgespeichert hat.

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Las Vegas ist kein Ort für ein musikalisches Lagerfeuerchen

Zunächst wird U2 aber wohl wieder als Megaband in Erscheinung treten. Beim Superbowl kündigten sie im Februar noch datumslos für die zweite Jahreshälfte Konzerte zur Eröffnung der MSG Sphere in Las Vegas an, des größten kugelförmigen Gebäudes der Welt, in dem sich dann auch der größte LED-Screen der Welt befinden soll. Im Mittelpunkt dieser Auftritte wird ihr unbestrittenes Meisterwerk „Achtung, Baby!“ (1991) stehen. Dem Event entsprechend, wird alles mächtig glitzern und rocken. Kein Ort, um ein intimes musikalisches Lagerfeuerchen anzufachen.

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Kein Ort auch für Larry Mullen Jr. – für ihn wird bei den Vegas-Konzerten Bram van den Berg einspringen, Schlagzeuger der niederländischen Alternative-Rockband Krezip. Mullen hatte im Dezember des Vorjahres angekündigt, aus gesundheitlichen Gründen eine Auszeit zu benötigen – wohl auch um Gerüchte um ein endgültiges Ausscheiden aus der 1976 von ihm gegründeten Band zu dementieren.

Beginnt mit diesem Album das Spätwerk von U2?

Ob das neue Album letztlich nur ein Pandemiezeitvertreib war oder ob mit den bedächtigen „Songs of Surrender“ U2s Spätphase eingeleitet wurde, ist offen. Von neuen Songs ist derzeit nicht die Rede, die letzte Kollektion, die „Songs of Experience“ hieß, liegt allerdings bereits sechs Jahre zurück. Höchste Zeit für ein Alterswerk der Johnny-Cash-Klasse. In „Dirty Day“, das – getragen von einem Cello - zu den schönsten „Songs of Surrender“ zählt, weiß Bono durchaus, dass die Zeit kein Zauderer duldet.

„Diese Tage, diese Tage“, singt er, „sie galoppieren wie Pferde über die Hügel.“

Das Cover des Albums „Songs of Surrender“ der irischen Band U2

Das Cover des Albums „Songs of Surrender“ der irischen Band U2

U2 – „Songs of Surrender“ (Universal) erscheint am 17. März

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