Die Frau, die zurückschlug

Tina Turner – eine Vorkämpferin von #MeToo

Toxische Beziehung: Ike Turner schlug und missbrauchte seine Ehefrau Tina Turner  – auf einer Fahrt in ein Hotel in Dallas schlug sie zurück.

Toxische Beziehung: Ike Turner schlug und missbrauchte seine Ehefrau Tina Turner – auf einer Fahrt in ein Hotel in Dallas schlug sie zurück.

„Ike, ich kann wirklich nicht länger bei dir bleiben“, so erinnerte sich Tina Turner in ihrer Autobiografie „Ich, Tina – mein Leben“, an einen Tag 1975, an die Eröffnung der Trennungsgespräche mit ihrem gewalttätigen Ehemann Ike Turner. „Oh, er schlug mich immer noch“, fuhr sie fort, „und manchmal auch sehr schlimm – aber … nicht mehr so oft.“ Sie empfand das als Verbesserung, und vermutete Angst dahinter. „Denn er hatte es vorher noch nie erlebt, dass ich so mit ihm gesprochen hatte.“

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Ike Turner fand nur den Kanal von Erniedrigung und Gewalt

Gebrochene Rippen, ein gebrochener Kiefer, Prügel mit Kleiderbügeln, Schuhspannern, allen denkbaren Gegenständen und nach den Schlägen dann regelmäßig Vergewaltigung. Tina Turner, die am Mittwoch im Alter von 83 Jahren im Schweizer Ort Küsnacht starb, litt unter der supertoxischen Persönlichkeit eines Mannes, der sie schon als Schulmädchen in seine Band und an seine Seite geholt hatte.

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Eines Mannes, der später Kokain nahm, grausame Gewaltfantasien hegte und diese zuweilen auch auslebte, der fremdging und zugleich rasend eifersüchtig auf jeden war, der seiner Frau nur die geringste Aufmerksamkeit schenkte. Ein Paranoiker, ein durchgeknallter zunehmend isolierter Pascha, dessen Verlustängste immer wieder nur den Kanal von Erniedrigung und Gewalt fanden.

Am Unabhängigkeitstag 1976 schlug Tina Turner zurück

Der Filmemacher Bob Gruen erinnert sich, Ike Turner damals von der Frauenbewegung, von weiblichen Bewusstseinsveränderungen und seiner Überzeugung erzählt zu haben, dass man die Frau als „vollwertigen, gleichrangigen Lebenspartner“ sehen müsse. „Es ergab für ihn nicht viel Sinn“, war Gruens Eindruck von jener Begegnung.

Am 4. Juli 1976, dem 200. Geburtstag der Vereinigten Staaten von Amerika, unterwegs mit einer Limousine ins Hilton-Hotel in Dallas, schlug Tina Turner zurück. Obwohl Ike sie darauf mit einem seiner Schuhe verdrosch, war sie euphorisiert: „Ich kam mir vor, als würde ich fliegen“, erinnerte sie sich, „Ich wusste, dass ich so gut wie weg war.“

Es war Tina Turners persönlicher Unabhängigkeitstag. Als Ike Turner später im Hotelzimmer eingeschlafen war, verließ sie ihn – mit nichts als einer Benzinkreditkarte und 36 Cent Bargeld. Sie wurde von einem mitleidigen Hotelmanager des Ramada Inn aufgenommen – der auch noch ein Sicherheitsschloss an der Tür der Suite anbringen ließ, in die er die blutende Sängerin einquartierte.

Der Erfolg von „Nutbush City Limits“ zeigte Tina, was möglich war

Diese Selbstbefreiung kam spontan und doch nicht aus dem Nichts. Sie hatte ihren Ursprung auch in einer veränderten Rolle der Sängerin im Bandgefüge. Der Bombastproduzent Phil Spector hatte schon 1966 für seine Aufnahme der mächtigen sinfonischen Soulnummer „River Deep, Mountain High“ allein Tina Turner im Studio haben wollen, hatte ihr die Möglichkeiten ihrer Stimme aufgezeigt und Ike bewusst ferngehalten.

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Das funkig-rockige Lied wurde ein Erfolg in England, floppte aber in den USA. Im Sommer 1973 wurde dann „Nutbush City Limits“ zum bis dato größten Hit des Duos. Der Song mit der zackigen Glamrockgitarre – gemunkelt wird bis heute, es sei Marc „T. Rex“ Bolan gewesen, der sie gespielt hat – und Ikes wie eine Sirene gellendem Moog-Synthesizer führte als Autorin allein Tina Turner auf.

Der Song wurde Nummer 22 in den amerikanischen Billboardcharts, Nummer vier in Großbritannien, kam auf Platz zwei in Deutschland und auf Platz eins in Österreich. Der erste wirklich eigene Welthit des Duos stammte nicht aus der Feder von Ike. Alles war nun möglich – das muss Tina Turner damals klar geworden sein.

Tina wurde das Rolemodel für aufstrebende wie versunkene Stars

Dass Tina Turner ein Rolemodel für viele ihr nachfolgende Sängerinnen und Bühnenperformerinnen wie Beyoncé oder Janet Jackson wurde, ist hinreichend bekannt. Mit ihrem Comeback 1983/84 wurde sie zudem zur Hoffnung für alle im Tingeltangel gestrandeten Ex-Stars.

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Weil die Hits „Let‘s Stay Together“ und „What‘s Love Got To Do with It“ und das Album „Private Dancer“ – in einer Review der „New York Times“ als „Meilenstein (…) in der Entwicklung der Pop-Soul-Musik“ bezeichnet – die Mittvierzigerin doch in Dimensionen des Erfolgs katapultierten, die weit über alles hinausgingen, was sie an der Seite von Ike Turner je erreicht hatte.

Tina Turner zeigte, dass man alles Erlittene in Worte fassen konnte

Aber durch ihre Trennung von Ike wurde sie überdies zum Symbol für Women‘s lib, dafür, dass eine Frau alles Schreckliche, das ihr widerfahren war, auch erzählen durfte, ja sollte. Dass sich die Demütigungen und Schmerzen eben nicht mehr in Schuld, Scham und Schweigen verwandeln mussten, sondern zu Worten, zu Anklagen werden konnten.

Auf ihre Wahrsagerin habe sie gehört, als sie 1981 erstmals von den Schrecken ihrer Ehe erzählte. „Es wird dich befreien“, habe die ihr geraten. Tina Turner wurde die, die zeigte, was Frauen möglich war – und das nicht etwa unter dem Schutz ihres späteren Superstar-Status. 1981 gehörte noch zu den harten Solojahren, in denen ihr musikalisch nichts gelingen wollte.

Nach der Trennung gelang Ike künstlerisch nicht mehr das Geringste

Heute, im Zuge des durch #MeToo gewandelten Blicks auf (männliche) sexuelle Gewalt, wäre der Fall Ike Turner ein gefundenes Fressen für all jene Anwältinnen und Anwälte, die den Weinsteins und Cosbys und Maxwells in den zurückliegenden Jahren den Prozess machten. Doch es ist zweifelhaft, ob die in mehrerlei Hinsicht misshandelte und missbrauchte Tina diesen Schritt mit ihnen gegangen wäre.

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Sie hat jedenfalls nicht prozessiert, keine Entschädigung erhalten, ihren Peiniger nicht hinter Gitter gebracht, sich nur von ihm ferngehalten.

Und ihn dann – mit ein wenig Starthilfe von guten Freunden wie den Synthpoppern Heaven 17 oder David Bowie – auf seinem ureigenen Feld geschlagen. Während Tina Turner zu einem Superstar aufstieg und zwischen 1983 und 2009 für 26 Jahre ganz oben auf dem Olymp blieb, gelang dem sich selbst für genial haltenden Ike nicht der kleinste Karriereschritt mehr.

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„Diese Frau stieg wie ein Phönix aus der Asche des Missbrauchs“

Aus dem Mann, dem manche Musikwissenschaftler ob seiner Single „Rocket 88″ die Erfindung des Rock ‘n‘ Roll zubilligte, wurde der Missbraucher, der Tina Turner Gewalt angetan hatte, der sich an dieser großartigen grundsympathischen Frau vergriffen hatte. Es war, als wäre das Schicksal weiblich und hätte Lust auf Rache bekommen, darauf, Ike Turner zu einer Fußnote im Rock-‘n‘-Roll-Kapitel über Tina herabzuwürdigen.

„Diese Frau stieg wie ein Phönix aus der Asche des Missbrauchs, einer entgleisten Karriere und ohne Geld zu einer Renaissance auf, wie ich sie in der Unterhaltungsbranche noch nie gesehen habe“, brachte Sherrilyn Ifill, frühere Präsidentin der Bürgerrechtsorganisation National Association for the Advancement of Colored People (NAACP), das Wunder Tina jetzt bei Twitter auf den Punkt. „Sie ist ganz sie selbst geworden – und hat uns allen gezeigt, wie man es macht.“

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„Wie verabschieden wir uns von einer Frau, die sich ihren Schmerz und ihr Trauma zu eigen gemacht und es als Mittel genutzt hat, um die Welt zu verändern?“, fragte die Schauspielerin Angela Bassett, der die Tina-Darstellung im Kinobiopic „What‘s Love Got to Do with It“ eine Oscarnominierung eingebracht hatte, am Mittwoch in einem Statement.

Und schickte die Antwort hinterher: „Durch ihren Mut, ihre Geschichte zu erzählen, ihre Entschlossenheit, in ihrem Leben den Kurs zu halten, ganz gleich, welche Opfer sie bringen musste, und ihre Entschlossenheit, sich selbst und anderen, die wie sie aussehen, einen Platz im Rock ‘n‘ Roll zu verschaffen, hat Tina Turner anderen, die in Angst lebten, gezeigt, wie eine schöne Zukunft voller Liebe, Mitgefühl und Freiheit aussehen sollte.“

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