Gegen Überforderung in Krisenzeiten: Warum Rüschenkleider und Krimskrams jetzt im Trend sind
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Ist die Zeit des Minimalismus vorbei? Ein neuer Trend heißt „Cluttercore“.
© Quelle: Steph Wilson/Unsplash
Das Gedicht rührt noch immer, mehr als 200 Jahre nach seiner Entstehung. Da wandert ein lyrisches Ich „durch Länder, Städt und Au’n“, auf der Suche nach der blauen Blume – Sinnbild für die Sehnsucht nach Liebe und Unendlichkeit, nach dem Einswerden mit der Natur. Die blaue Blume aus Joseph von Eichendorffs gleichnamigem Gedicht ist das Symbol der Romantik schlechthin. Alles, was mit der Epoche zu tun hat – oder besser: ihr zugeschrieben wird –, übt stets aufs Neue große Anziehungskraft aus. Auch heute wieder.
Das ist etwa zu erkennen am Erfolg von Andrea Wulfs Sachbuch „Fabelhafte Rebellen. Die frühen Romantiker und die Erfindung des Ich“ (Verlag C. Bertelsmann). Dass ein Buch über Goethe, Schiller und Novalis, aber auch über die Philosophen Fichte, Schelling und Hegel auf solch ein breites Interesse stößt, ist vielleicht ein bisschen überraschend. Zumindest auf den ersten Blick. Auf den zweiten erkennt man, warum die Ansichten dieser Dichter und Denker und der „Rebellin“ Caroline Schlegel-Schelling heute noch verfangen.
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Krieg, Krise, Pandemie: In Zeiten der Überforderung blicken viele lieber ins Innere
Dem Buch vorangestellt ist ein Zitat von Johann Gottlieb Fichte: „Merke auf dich selbst: kehre deinen Blick ab von allem was dich umgiebt, und in dein Inneres – ist die erste Forderung, welche die Philosophie an ihren Lehrling thut.“ Etwas von dieser Ende der 1790er-Jahre revolutionären Aussage, die das fühlende Ich ins Zentrum des Denkens stellte, findet sich in der heutigen Überzeugung, wie wichtig es ist, ein Leben im Einklang mit sich selbst zu führen.
Gerade in Zeiten von Pandemie und Krieg, in denen sich viele überfordert fühlen, blickt man manchmal lieber ins Innere, statt sich mit der komplizierten Außenwelt auseinanderzusetzen. Oder man streift durch die Natur. Nicht zufällig bildet ein stimmungsvolles Naturbild häufig die Kulisse für Fotos von Menschen in nostalgischem Outfit. Frauen posieren in Kleidern mit Spitze, Tüll und Rüschen zwischen Bäumen und Blumen.
Bei vielen solcher Bilder, die die sozialen Medien fluten, ist zu spüren: Hier will jemand eine romantische Gegenwelt zum Alltag inszenieren. Mehrere Luxuslabels haben diesen romantischen Look aufgegriffen. So schwelgt Valentino in diesem Frühjahr und Sommer in Rüschenkleidern. Dior hat’s diese Saison mit Federn, und bei Akris findet man reichlich Spitze. Die Betonung des Gefühls und der Rückzug ins Private haben immer mal wieder Konjunktur. Umfragen zeigen: Seit den Lockdowns ist noch mehr Menschen als zuvor ein schönes Zuhause wichtig. Dazu passt der nüchterne Einrichtungsstil vergangener Jahre nicht mehr so recht. Vor einem Jahrzehnt erschienen die ersten Bücher der Aufräumberaterin Marie Kondo. Bei jedem Stück sollte man sich fragen, ob es einen wirklich glücklich mache, predigte sie. Falls nicht – weg damit.
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Ich krieg die Krise!
Sie umgibt uns, sie macht uns Angst, sie lähmt uns: die Krise. Von ihr gibt es mittlerweile so viele, dass sich das Leben anfühlt wie im Krisenmodus. Auch im ganz Persönlichen findet sich immer eine Phase, in der nicht alles gut ist. Vielleicht ist das aber der Lauf der Dinge – und kein Grund, das Wort so inflationär zu gebrauchen.
„Cluttercore“: Es darf auch unaufgeräumt und wild gemustert sein
Heute hingegen umgeben sich viele Menschen bewusst mit ganz vielen Dingen, und es darf unaufgeräumt und wild gemustert sein. „Cluttercore“ heißt dieser Trend, bei dem jede Menge Krimskrams das Zuhause schmückt. Nicht kühle Übersichtlichkeit ist angesagt, sondern das Aufbewahren von möglichst vielen Sachen, die an Familie, Freunde oder Reisen erinnern. Es gilt, das Andenken an individuelle Glücksmomente zu sichern. Auch so lässt sich vielleicht ein Bollwerk gegen die Welt da draußen errichten. Für das gestiegene Wohlfühlbedürfnis in den eigenen vier Wänden steht wohl auch die Wiederentdeckung der Tapete, die seit einiger Zeit zu beobachten ist. Dabei gilt aktuell: je dicker, desto besser. „Cord, Canvas, Loden, Seide – Wände werden eingekleidet“, heißt es vom Deutschen Tapeten-Institut.
Im gerüschten Kleid in einem Zimmer mit Seidentapete sitzen: Das beschwört zwar den Geist der Romantik – doch für eine eigene Mode stehe diese Epoche nicht, sagt Birgit Haase, Professorin für Kunst- und Modegeschichte sowie Modetheorie an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg. Das Biedermeier, das sich mit der Romantik zeitlich überschnitt und schließlich darauf folgte, sei stilistisch dominierender gewesen. Typisch sei in der an sich relativ schlichten Frauenmode dieser Epoche die „puppenhafte Silhouette“. „Die Mode im Frühbiedermeier hatte etwas Mädchenhaftes“, so Haase.
„Es hat in der Mode schon immer Revivals gegeben – seit Jahrhunderten.“
Dass der Kleidungsstil des frühen 19. Jahrhunderts derzeit von vielen geschätzt werde, gehöre zu den für die Mode typischen „Wellenbewegungen“, sagt die Professorin. „Es hat in der Mode schon immer Revivals gegeben – seit Jahrhunderten.“ Und schon vor 100 Jahren hätten sich Menschen darüber mokiert, dass die Revivals angeblich immer schneller aufeinander folgten. Einen romantischen Look, gerade in der Männermode, habe es etwa in den 1960er-Jahren gegeben. In der sogenannten Peacock-Revolution jener Jahre bewiesen Männer „Mut zu einer neuen Farbigkeit in ihrer Kleidung, zu Mustern und auch zu Rüschen“, erklärt die Professorin. Manche haben vielleicht wie ein Peacock, also wie ein Pfau, gewirkt. Für viele war das Outfit wohl Protest gegen ein als überkommen empfundenes Bild vom Mann – strenger Anzug, unterkühltes Auftreten.
Auf jeden Fall, so die Modeexpertin, sei es in unserer Zeit der genderfluiden Mode für Männer weitaus akzeptierter sich so zu kleiden, als es im 19. Jahrhundert angesichts einer damals durch die Kleidung deutlich zum Ausdruck gebrachten Trennung der Geschlechter der Fall war.
Was romantische Gefühle in dieser Epoche, die all dem ihren Namen gab, tatsächlich bedeutet haben, lässt sich zum Beispiel in der Hamburger Kunsthalle erleben: in dem Saal mit Gemälden von Caspar David Friedrich (1774–1840), dem wichtigsten Maler der Romantik. Die Bilder, die oft eine melancholische Stimmung verströmen, berühren noch heute. Von Mitte Dezember an zeigt das Museum eine „Jubiläumsausstellung“, der Titel: „Kunst für eine neue Zeit“.