Warnstreik am 14. Juni: Warum Apotheken geschlossen bleiben - und welche Notdienstschalter offen bleiben
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Auch in der Vollwerth-Apotheke an der Koblenzer Straße in Siegen wird gestreikt.
© Quelle: Thorsten Keller
Siegen. Die Apotheken schlagen Alarm – bemängelt werden Lieferengpässe, Personalmangel, unzureichende Finanzierung und zu viel Bürokratie. Aus Protest hat die ABDA (Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände) für diesen Mittwoch, 14. Juni, daher zum bundesweiten Warnstreik aufgerufen.
Am Tag der Protestaktion werden die regulär eingeteilten notdiensthabenden Apotheken geöffnet haben und wahrscheinlich nur über den Notdienstschalter bedienen. Patienten werden daher gebeten, diese nur in dringenden Notfällen aufzusuchen.
Auf https://www.aponet.de/apotheke/notdienstsuche findet sich die offizielle Liste aller Apotheken, die in der Nähe Notdienst haben. In und um Siegen werden folgende Apotheken geöffnet haben:
- Herz-Apotheke am Siegbogen, Weidenau
- Laurentius-Apotheke in Wilnsdorf
- Löwen-Apotheke in Betzdorf
- Ginsburg-Apotheke in Hilchenbach
- Bahnhof-Apotheke in Lennestadt
- Apotheke in Wildbergerhütte in Reichshof
- Franziskus-Apotheke in Olpe.
Dramatische Zustände in Arzneimittelversorgung
Südwestfälischer Europaabgeordneter Peter Liese, Vorsitzender der Bezirksgruppe Siegen des Apothekenverbandes Westfalen-Lippe Christof Werner und Apothekerin Sabine Vollwerth klären im SZ-Gespräch über die Hintergründe zum Warnstreik auf.
Peter Liese, Europa-Parlamentarier der CDU aus Meschede, weist auf dramatische Zustände in der Pharmaindustrie und der Arzneimittelversorgung in Deutschland hin. Die Lieferbarkeit vieler Medikamente sei katastrophal: Patienten müssten lange Fahrtzeiten zu alternativen Apotheken auf sich nehmen und Wirkstoff-Änderungen, insbesondere bei der Einnahme von mehreren Präparaten, hätten oft drastische Folgen: So habe sich beispielweise die Anzahl der Spontanmeldungen an Unverträglichkeiten mancherorts verdreifacht.
Für das Management von Lieferengpässen gehen pro Apotheke wöchentlich mindestens sechs Stunden drauf.
Sabine Vollwerth
Inhaberin der gleichnamigen Apotheke in Siegen
„Wir hatten Kinder auf der Station, die nur ins Krankenhaus mussten, weil ein Antibiotikum nicht als Saft verfügbar war und sie deshalb für Infusionen mehrere Tage im Krankenhaus liegen mussten.
Und das bei ohnehin überlasteten Pflegepersonal“, beklagt der gesundheitspolitische Sprecher der größten Fraktion im EU-Parlament. Bei preisabweichenden Präparat-Alternativen müssten Apotheker täglich mit Krankenkassen über jeden Cent hinter dem Komma diskutieren. Die „Billigmentalität“, so Liese, müsse endlich ein Ende haben.
Medikamentenmarkt wurde kaputtgespart
Die Gründe der Arzneimittelknappheit liegen laut Christof Werner, Vorsitzender der Bezirksgruppe Siegen des Apothekenverbandes Westfalen-Lippe, in dem enormen Preisdruck auf dem Markt. Begonnen habe das Problem bereits vor 20 Jahren, als Krankenkassen Rabattverträge für die marktdominierenden Generika (Wirkstoffkopien von meist chemisch hergestellten Original-Arzneimitteln), mit Herstellern abschlossen und somit teilweise Milliardenbeträge auf die Mittel sparen konnten. Viele Hersteller, die ihre Produkte zu den niedrigen Preisen nicht mehr herstellen konnten, seien über die Jahre aus dem Geschäft ausgestiegen.
Wir reißen uns sämtliche Extremitäten aus, um den Laden hier irgendwie am Laufen zu halten und keiner hört uns zu.
Christof Werner
Vorsitzender der Bezirksgruppe Siegen des Apothekenverbandes Westfalen-Lippe und Hilchenbacher Apotheker
„In Europa gibt es keine Produktionsstandorte mehr und der Weltmarkt in der Arzneimittelindustrie ist knapp”, schildert Werner. Die Ware fließe dahin, wo am meisten dafür bezahlt werde. „Und das ist natürlich nicht Deutschland. Die Ware fließt an uns vorbei“, betont der Hilchenbacher Apotheker.
Die Abhängigkeit von nicht-europäischen Herstellern sei zudem äußerst riskant: „Wenn in Indien oder China etwas in der Produktion schiefgeht, fällt ein Großteil der Medikamente weg.“ Werner ist sich sicher: Produktionsstandorte müssen wieder nach Europa zurückgeholt werden. Und dafür müsse es wohl oder übel teuer werden.
Seit 2008 über 4.000 Apotheken-Schließungen
In den Apotheken sorgen die Lieferschwierigkeiten für Mehrarbeit, Stress und verärgerte Patienten. Seine Arbeitstage verbringe Werner damit, andere Apotheken abzutelefonieren und bei den Arztpraxen meist nur auf den Anrufbeantworter zu stoßen. „Da ist genauso Achterbahn wie bei uns“, sagt der Apotheker verständlich.
Aktuell sei es insbesondere Penicillin V, welches nicht lieferbar ist und bei Kindern nicht ohne weiteres auf einen anderen Wirkstoff umgestellt werden könne, aber auch einige Antibiotika, Schmerzmittel oder Blutdrucksenker seien immer wieder nicht verfügbar.
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Apotheker Dr. Christof Werner, Vorsitzender Bezirksgruppe Siegen Apothekerverband Westfalen-Lippe.
© Quelle: privat
„Wir reißen uns sämtliche Extremitäten aus, um den Laden hier irgendwie am Laufen zu halten und keiner hört uns zu“, betont Werner. Bei den aktuellen Zuständen und der Bezahlung, die seit Jahren nicht an die Preisentwicklungen der Inflation angepasst worden sei, ist es laut Werner nicht verwunderlich, dass seit 2008 über 4.000 Apotheken deutschlandweit das Handtuch geworfen hätten. In Zukunft rechnet er mit einem noch drastischeren Anstieg an Schließungen – allein im ersten Quartal dieses Jahres hätte Deutschland 160 Apotheken verloren.
Es geht um eine generelle Notwendigkeit, zur Umstrukturierung des Markts. Denn die Versorgungssicherheit steht auf dem Spiel
Christof Werner, Apotheker aus Hilchenbach
„Für das Management von Lieferengpässen gehen pro Apotheke wöchentlich mindestens sechs Stunden drauf“, kann auch die Siegener Apothekerin Sabine Vollwerth berichten.
Bundesweit gehe die ABDA von etwa 20 Millionen verordneten, aber nicht verfügbaren Arzneimitteln pro Jahr aus. Die Apotheken bräuchten daher einen angemessenen Engpass-Ausgleich für den personellen Mehraufwand.
Der Warnstreik sei daher ein Hilferuf der Apotheker, der Öffentlichkeit erzeugen soll. „Es geht auf keinen Fall nur um das Einkommen der Apotheken“, versichert Dr. Christof Werner zusammenfassend. „Es geht um eine generelle Notwendigkeit, zur Umstrukturierung des Markts. Denn die Versorgungssicherheit steht auf dem Spiel.“
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SZ