Interview mit Soziologin über die Mobilitätswende

„Wir müssen Mobilität nicht nur als Freiheit begreifen, sondern auch als Zwang“

Mobilität ist auch ein Zwang, sagt die Wissenschaftlerin Katharina Manderscheid.

Mobilität ist auch ein Zwang, sagt die Wissenschaftlerin Katharina Manderscheid.

Frau Manderscheid, Sie sind Mobilitätssoziologin. Wie viel Soziales steckt in Mobilität?

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Unheimlich viel. Wir nehmen in der Mobilitätssoziologie an: Gesellschaft basiert auf Mobilität. Jeden Tag wechseln wir mehrfach unsere sozialen Räume, weil wir in einer differenzierten Gesellschaft leben: Wir gehen arbeiten, treffen Kolleginnen und Kollegen, wir gehen Mittag essen, die Kinder gehen in die Kita oder Schule, abends gehen wir vielleicht noch mit Freundinnen und Freunden ins Theater. Für all das suchen wir unterschiedliche Orte auf. In der Mobilitätssoziologie schauen wir uns an, wie diese Wege entstehen, wie sie zurückgelegt werden und welche Bedeutung verschiedene Verkehrsmittel dabei haben.

Viele Menschen steigen jetzt aufs E-Auto um. Warum reicht das nicht?

Auf dem Weg zu einem nachhaltigen Wandel müssen wir zwischen der Verkehrswende, der Antriebswende und einer Mobilitätswende unterscheiden. In der öffentlichen Diskussion ist die Antriebswende sehr stark im Fokus: Also die Idee, dass der Autoverkehr aufrechterhalten wird und der Antrieb durch einen E-Motor ersetzt wird. Das blendet aber viele Probleme aus, die wir darüber hinaus beim Verkehr haben.

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An welche Probleme denken Sie da?

Eben nicht nur an Abgase, sondern die Umwelt insgesamt. Expertinnen und Experten sind sich ja noch nicht einmal einig darüber, ob E-Autos in der Gesamtbilanz wirklich klimafreundlicher sind.

Das größte Problem beim Verkehr in Städten ist: Platz. Die Straßen sind zugeparkt, es herrscht ständig Stau – und Autos bergen für andere Verkehrsteilnehmende eine große Gefahr. Weil der Autoverkehr so dominant ist, sagen zum Beispiel viele Eltern, dass sie ihre Kinder auf gar keinen Fall Fahrrad fahren oder zu Fuß gehen lassen wollen.

Deshalb wird ja oft eine Verkehrswende gefordert. Was heißt das?

Dass wir unseren Verkehr vom Auto auf andere Verkehrsmittel verlagern – wir mehr mit öffentlichen Verkehrsmitteln, zu Fuß oder mit dem Rad unterwegs sind. Man muss sich klarmachen: Die meisten Autos stehen etwa 23 Stunden am Tag. Das ist eine große Flächen- und Materialverschwendung. Es ist auch für jeden Haushalt, der ein Auto hat, teuer. Die „versunkenen Kosten“ für Versicherung, Steuern, Reparaturen und Wertverlust werden systematisch unterschätzt.

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„Das größte Problem beim Verkehr in Städten ist: Platz.“

Katharina Manderscheid

Viel wirtschaftlicher, ökologischer und platzsparender ist es, Menschen kollektiv zu befördern oder kurze Wege mit anderen Verkehrsmitteln zurückzulegen, als dass jeder Mensch allein in seiner Blechkiste unterwegs ist.

Katharina Manderscheid ist Professorin für Soziologie, insbesondere Lebensführung und Nachhaltigkeit, an der Universität Hamburg. Manderscheid forscht unter anderem zum autofreien Leben und sozialer Ungleichheit in der Mobilität.

Katharina Manderscheid ist Professorin für Soziologie, insbesondere Lebensführung und Nachhaltigkeit, an der Universität Hamburg. Manderscheid forscht unter anderem zum autofreien Leben und sozialer Ungleichheit in der Mobilität.

Wie unterscheiden sich nun Verkehrswende und Mobilitätswende voneinander?

Die Verkehrswende antwortet nicht auf die Frage: Warum sind wir denn überhaupt die ganze Zeit so mobil? Und warum nehmen die Distanzen, die wir täglich zurücklegen, Jahr für Jahr immer weiter zu? Das hat zwar auch damit zu tun, dass die Verkehrsmittel immer schneller werden. Dahinter verbergen sich aber auch viele Zwänge: Wir müssen Mobilität nicht nur als Freiheit begreifen, sondern auch als Zwang.

Haben Sie ein Beispiel für diese „Mobilitätszwänge“?

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Viele können sich beispielsweise eine angemessene Wohnung in der Großstadt gar nicht mehr leisten – sie müssen deswegen weiter rausziehen und haben dadurch längere Pendelstrecken zur Arbeit. Andere müssen für ihren Job umziehen. Das bedeutet aber nicht, dass ihr ganzes Netzwerk mitziehen kann. Wenn ich dann meine Freundinnen und Freunde und meine Familie besuchen möchte, bin ich dafür auch wieder mobil. So entstehen wieder neue Wege: Dadurch, dass wir mobil sind, schaffen wir immer mehr Mobilität.

Die Mobilitätswende hinterfragt: Gibt es Möglichkeiten, diese Mobilitätszwänge abzubauen? Kann ich mir zum Beispiel mehr Zeit nehmen, um unterwegs zu sein? Das sind Fragen, die an den Grundfesten unserer Gesellschaftsordnung rütteln: Geht es um höher-schneller-weiter oder sind wir nicht an einem Punkt, an dem wir anders über die Frage eines guten Lebens nachdenken wollen? Wir können Mobilität neu organisieren und die Qualität unseres Unterwegsseins verbessern. Ziel sollte auch sein, dass Menschen begreifen: Es ist auch eine Form von Freiheit, sich nicht bewegen zu müssen.

Könnten dabei autofreie Tage oder Zeiten helfen?

Das wäre zumindest ein gutes Instrument, um mit Routinen zu brechen. Mobilität und Verkehrsmittelnutzung ist nichts, worüber wir jeden Tag neu nachdenken, sondern das machen wir so, wie wir es immer machen. Wir denken noch ganz viel mit dem Auto im Kopf. Es wäre wichtig, nicht immer nur über den „Verzicht“ aufs Auto zu reden, sondern die Qualitäten eines autofreien Lebens zu sehen: Es kann entlastend sein, kein Auto fahren zu müssen – mehr Fahrrad zu fahren könnte sogar die Lebensqualität erhöhen.

Hätten wir autofreie Tage, wären das Momente, in denen man innehält und überlegt, was man ohne Auto machen kann. Damit so etwas aber einen dauerhaften Effekt hat, ist es ganz wichtig, dass sich die Rahmenbedingungen verändern: Benzin und Anwohnerparken müssen teurer werden, Autostraßen müssen zurückgebaut und andere Verkehrswege und -angebote ausgebaut werden.

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Was für Anreize oder Bedingungen brauchen Menschen noch, damit sie weniger Auto fahren beziehungsweise ihr Verkehrsverhalten allgemein ändern?

Um die Verkehrs- oder gar die Mobilitätswende im großen Stil zu erreichen, muss an vielen Schrauben gleichzeitig gedreht werden. Es gibt typische Situationen im Leben, an denen Verkehrsverhalten sehr offen für Veränderungen ist, nämlich bei Umbrüchen in der Biografie: wenn jemand umzieht, eine Familie gründet, mit jemandem zusammenzieht, einen Job anfängt, aus dem Elternhaus auszieht oder in Rente geht. Dann wird der Alltag neu ausgehandelt. Wenn man da versucht, einzuhaken, sind die Leute am ehesten bereit, etwas Neues auszuprobieren. Eine Idee könnte sein: Wenn man neu in eine Stadt zieht, bekommt man bei der Ummeldung für einen Monat das Verkehrsangebot der Stadt geschenkt. Solche externen Motivationen bringen Leute möglicherweise dazu, über ihr Verkehrsverhalten nachzudenken.

„Beim Radfahren ist aber auch wichtig, dass die Strecken attraktiv sind. Niemand macht gern Sport neben einer vier- oder sechsspurigen Straße.“

Der Umstieg auf ein anderes Verkehrsmittel ist immer dann nachhaltig, wenn die Menschen selbst einen persönlichen Mehrwert darin sehen – jenseits des Klimaschutzes: die entspannte Zeit in der Bahn, ein gutes Körpergefühl und die Bewegung durchs Fahrradfahren. Beim Radfahren ist aber auch wichtig, dass die Strecken attraktiv sind. Niemand macht gern Sport neben einer vier- oder sechsspurigen Straße. Gleichzeitig müssen Car-Sharing, Ridepooling und On-Demand-Dienste ausgebaut werden – und sind im Idealfall Teil des öffentlichen Nahverkehrs.

Spannend ist auch: Wie Kinder unterwegs sind, so bewegen sie sich tendenziell auch als Erwachsene. Heutzutage werden die meisten Kinder mit dem Auto zur Schule oder Kita gebracht. An der Stelle wird das Problem schon in die Zukunft verlängert. Kinder finden es normal, automobil unterwegs zu sein. Hier müssen wir ansetzen und die Orientierung am Auto aufweichen.

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