Parallelen zwischen Hamburg, Hanau und Halle

Der Mörder war wieder der Incel

Die Polizei hat Philipp F. als Täter des Amoklaufs in einem Gebäude der Zeugen Jehovas in Hamburg identifiziert.

Die Polizei hat Philipp F. als Täter des Amoklaufs in einem Gebäude der Zeugen Jehovas in Hamburg identifiziert.

So etwas darf sich nicht wiederholen, es muss etwas geschehen: So klingen die Reaktionen in Deutschland auf Amokläufe aller Art – immer wieder.

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In bester Meinung wird nach furchtbaren Taten viel interpretiert, assoziiert und diskutiert. Und es wird immer auch viel Richtiges gesagt.

Ja, nach der Amoktat bei den Zeugen Jehovas Hamburg ist in der Tat eine Überprüfung von Theorie und Praxis des deutschen Waffenrechts fällig. Natürlich war es richtig, nach dem Überfall auf die Synagoge von Halle im Jahr 2019 den Schutz jüdischer Einrichtungen zu stärken. Ein klarer Fall war es auch, dass nach der Erschießung migrantischer Opfer in Hanau im Jahr 2020 Politiker aller demokratischen Parteien ein gemeinsames „Zeichen gegen Rechts“ setzten.

Zur Wahrheit gehört aber auch das leider bloß Reflexhafte der Reaktionen: Sie sind verständlich und verständnislos zugleich.

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Scholz „fassungslos“ nach Schüssen in Hamburg
10.03.2023, Bayern, München: Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) nimmt nach dem Münchener Spitzengespräch der deutschen Wirtschaft an einer Pressekonferenz teil. Scholz und Vertreter der Wirtschaft trafen sich im Rahmen der Internationalen Handwerksmesse (IHM). Foto: Sven Hoppe/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Seine Gedanken seien bei den Opfern und ihren Angehörigen, sagte der Bundeskanzler am Rande einer Veranstaltung in München.

Grell angestrahlte Teilwahrheiten

Allzu oft aber werden nur Teilwahrheiten grell angestrahlt, anderes lässt man im Dunkeln – als sei Simplifizierung der beste Weg im Umgang mit dem Entsetzen. Regierende und Regierte leisten sich ein für beide Seiten bequemes Zusammenspiel. Der einfache Bürger will im Moment seines Erschreckens eine einfache Erklärung. Und die bekommt er auch.

Politiker hantieren mit ihren leicht aufklebbaren Etiketten. Mal versprechen sie ein neues Waffenrecht, mal ein härteres Vorgehen gegen Rechtsextremismus. Glücklich ist, wer schnell alles zu kategorisieren vermag. Ist die Erklärung verkündet, will man an ihr auch nicht mehr rütteln. Als sich 2020 in Hanau Hinweise auf eine schwere psychische Störung eines Täters häuften, wurde der SPD-Linke Ralf Stegner regelrecht wütend und schrieb in einem unvergessenen Tweet: „Schluss mit dem Lügenmärchen von (psychisch gestörten) Einzeltätern!“

Was aber, wenn eben doch ein höchst unübersichtlicher makabrer Mix von Motiven den Täter trieb? Wenn er Wahn und Wirklichkeit schon nicht zu unterscheiden wusste? Ist es Teil des „rechten Terrors“, die eigene Mutter zu erschießen und sich selbst, wie Tobias R. es in Hanau tat?

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Tobias R. war den Behörden bekannt. Im Jahr 2002, schon 18 Jahre vor der Tat in Hanau, gab er beim Polizeipräsidium Oberfranken eine Strafanzeige gegen Unbekannt auf, weil er „durch die Wand und durch die Steckdose abgehört, belauscht und gefilmt“ werde. Die Geschichte dieses Falles ist kompliziert, verstörend – aber jedenfalls kein Lügenmärchen. Man blickt zurück auf eine haarsträubend lange unbehandelte Psychose.

Auch das wirft viele Fragen auf – von denen sich allerdings keine durch ein strammes Zeichensetzen gegen Rechts beantworten ließe.

Das Böse auf der anderen Seite

Das Muster „Wir und die“ ist immer sehr beliebt, es hilft nur leider nicht weiter. Viele Menschen neigen naturgemäß dazu, im Moment einer Gewalttat zusammenzurücken und das Böse auf der jeweils anderen Seite zu sehen: bei radikalen Rechten, bei radikalen Linken, bei radikalen Muslimen. In Wahrheit aber passt vieles gar nicht ins Raster.

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Als im Sommer 2021 ein Somalier namens Abdirahmann J. in Würzburg drei Frauen mit einem Messer tötete, war prompt von einem islamistischen Anschlag die Rede. Später zeigte sich: Es gab weder entsprechende Motive noch Kontakte zu Terrorgruppen. Der Täter kam in die Psychiatrie. Und als dann noch herauskam, wie oft der Mann schon ein seltsames Verhalten gezeigt hatte, stellten sich auch hier Fragen ganz anderer Art. Wie steht es um unsere Sensibilität und Reagibilität, wenn Menschen psychisch abzudriften drohen?

Incels sind isoliert und frustriert.

Incels sind isoliert und frustriert.

Es wird Zeit, den Blick endlich freizumachen auf die verblüffenden Gemeinsamkeiten der unterschiedlich erscheinenden Fälle. Immer wieder sind die Täter Incels, sozial und sexuell isolierte Männer, die über Jahre hinweg oft zu radikalen Frauenfeinden geworden sind.

  • Den Hamburger Todessschützen Philipp F. regte das Thema Prostitution auf. Gott bediene sich der russischen Armee, schrieb er, um das Volk der Ukraine zu bestrafen, da Ukrainerinnen im Heiligen Land als Sexarbeiterinnen tätig gewesen seien. Frauen hätten sich dem Mann unterzuordnen und eine „dekorative Rolle“ einzunehmen, befand er. Selbstständige Frauen handelten gegen Gottes Willen. Da näherte sich Philipp F. dem norwegischen Massenmörder Anders Breivik, der im Jahr 2011 in Oslo und auf der Insel Utøya 77 Menschen tötete und in seinem damaligen Manifest schrieb: „Das Erstarken des Feminismus bedeutet das Ende der Nation und das Ende des Westens.“
  • Der Hanauer Todesschütze Tobias R. formulierte seine Abgrenzung zu Frauen weniger aggressiv, hob aber in seinem Manifest im Abschnitt „Thema Frauen“ hervor, dass er nie eine Freundin hatte, da er sich nun mal „mit nichts anderem als dem Besten zufrieden geben würde“.
  • Stephan B., der 2019 das Attentat auf eine Synagoge und einen Dönerimbiss in Halle beging, hörte während der Tat ein Lied, das einem Idol der „Incel“-Szene gewidmet ist, dem Kanadier Alek Minassian, der 2018 in Toronto mit einem Auto in eine Menschenmenge raste und zehn Menschen tötete. Minassian bezeichnete sich selbst als Incel und begründete seine Tat mit dem Wunsch, sich zu rächen für die Zurückweisung durch Frauen.

Ein unbequeme Aufgabe für alle

Incels sind Fortschrittsverlierer, einsame Männer, die gefährdet sind und gefährlich zugleich. Bei ihnen läuft einiges zusammen an destabilisierenden modernen Faktoren: der Trend zur Vereinsamung, der Trend zu knallhartem Wettbewerb, der Trend zur Radikalisierung im Netz.

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Irgendein „quick fix“ gegen Amokläufe ergibt sich daraus natürlich nicht. Immerhin aber ahnt man, dass die Vorbeugung früher einsetzen muss als bisher – und dass darin eine unbequeme Aufgabe für die gesamte Gesellschaft liegt: für Familien, Nachbarn, Freunde. Schon der Verzicht auf die üblichen Etikettierungsversuche und auf das voreilige Ausfahren des Zeigefingers wäre ein Fortschritt.

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