Gesundheitssystem stark belastet

Großbritanniens Hausärzte im Kampf gegen die Uhr

Hausärztinnen und -ärzte in Großbritannien stehen unter Druck.

Hausärztinnen und -ärzte in Großbritannien stehen unter Druck.

London. Für Youssef El-Gingihy beginnt an diesem sonnigen Februartag alles wie immer. Er fährt mit seinem roten Lexus vor, parkt an der Seite der Straße und betritt schließlich seine Allgemeinarztpraxis in Leamington Spa, einer Stadt südöstlich von Birmingham. Sein Behandlungsraum in einem der unteren Stockwerke des Hauses ist mit all dem ausgestattet, was Patienten bei einem Hausarzt erwarten dürfen. Eine Liege findet sich dort, bespannt mit Papier, genauso wie ein Tisch, zwei Stühle für die Patienten und eine Arbeitsfläche mit einem Waschbecken. Daneben liegen unter anderem ein Gerät zum Messen des Blutdruckes sowie eine Schachtel mit blauen OP-Masken.

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El-Gingihy nimmt an seinem Schreibtisch Platz, loggt sich mit einer ID-Karte in das Verwaltungssystem ein und sieht, was er heute zu tun hat. Über ein Dutzend Namen von Patientinnen und Patienten werden aufgelistet – unterlegt in verschiedenen Farben. Manche wird er anrufen, andere haben einen Termin vor Ort. „Hausärzte werden hier als eine Art Türsteher verstanden“, erklärt der Arzt und blickt dabei von seinem PC-Bildschirm auf.

In anderen Worten: Er entscheidet, ob die Menschen, die er heute sieht oder spricht, von ihm behandelt werden können, zu einem Spezialisten überwiesen werden oder gar ins Krankenhaus müssen. Ohne eine Überweisung können Patienten nicht zu einem Facharzt, auch nicht zum Gynäkologen oder Kinderarzt. Damit decken die Allgemeinärztinnen und -ärzte auf der Insel ein deutlich breiteres Spektrum ab als beispielsweise in Deutschland.

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Ärztinnen und Ärzte vor dem Burn-out

Während aktuell bedingt durch die Streiks von Pflegerinnen und Pflegern sowie Notfallpersonal viel über die Krise in den Kliniken des Landes gesprochen wird, spielen General Practioners (GPs), wie die Hausärztinnen und -ärzte in Großbritannien genannt werden, eine ebenso wesentliche Rolle für das öffentliche Gesundheitssystem NHS. Sie sollen der erste Ansprechpartner sein und stehen damit in dem angeschlagenen System ebenfalls extrem unter Druck. „Wir arbeiten deutlich mehr, als uns guttut. Auch wenn ich das Wort Burn-out nicht mag, so trifft es dennoch auf die Situation vieler Ärzte hierzulande zu“, räumt der 42-Jährige ein, der seit dem Jahr 2006 als Arzt und mittlerweile seit über zehn Jahren als GP arbeitet.

Dafür verantwortlich sind insbesondere die Sparmaßnahmen der Tory-Partei in den letzten zwölf Jahren, erklärt Stuart Hoddinott von der Denkfabrik Institute for Government. Die konservative Regierung habe nicht nur an den Löhnen gespart, es sei insgesamt deutlich weniger investiert worden. Es gibt weniger Betten und weniger Personal. Krankenhäuser wurden nicht restauriert, IT-Systeme nicht aktualisiert, technisches Equipment nicht erneuert. Geld wurde nur dann in die Hand genommen, wenn es schon zu spät war. Der Gesundheitsdienst wird, anders als in Deutschland, nicht über eine Versicherung, sondern über Steuern finanziert.

Weil überdies nicht genug in die Pflege von Älteren investiert wurde, wenden sich diese in ihrer Not dann erst an die Hausarztpraxis, wenn es ihnen schon recht schlecht geht. Außerdem leben die Menschen länger als früher und haben dadurch oft gleich mehrere chronische Erkrankungen. Die Folge: Der Bedarf an Hausärztinnen und -ärzten wuchs, ihre Zahl nahm jedoch ab, auch weil der Beruf wegen des zunehmenden Drucks unattraktiver wurde.

Zehn Minuten pro Termin, ein Anliegen pro Besuch

In den vergangenen zehn Jahren schlossen in England rund ein Fünftel der Hausarztpraxen. „Ein Teufelskreis“, wie Hoddinott betont. Denn um trotzdem Schritt zu halten, müssen die verbliebenen Allgemeinärzte in Großbritannien nun noch mehr und noch effizienter arbeiten, bestätigt El-Gingihy. In manchen Praxen in London werden Patienten deshalb gleich beim Eintritt durch Schilder über die strengen Regeln informiert: Teils sind nur zehn Minuten pro Termin vorgesehen, nur ein Anliegen darf vorgebracht werden. 30 oder gar 35 Patientinnen und Patienten pro Tag werden behandelt. Die Europäische Union empfiehlt maximal 25.

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Wegen der hohen Belastung reduzieren mittlerweile viele Allgemeinmedizinerinnen und -mediziner im Vereinigten Königreich die Stunden. „Das machen sie auch, um ihre Arbeitszeit auf ein erträgliches Maß zu reduzieren“, betont Hoddinott. Denn GPs müssten oft über die vertraglich vereinbarten Stunden hinaus Aufgaben erledigen; zum Beispiel, weil sie Patientenakten führen, oder auch, um sich mit Kolleginnen und Kollegen in Krankenhäusern zu beraten. Nicht wenige Allgemeinärzte haben ähnlich wie das Pflegepersonal längst das Gefühl, ihren Patienten nicht mehr gerecht werden zu können.

Wer es sich leisten kann, schließt deshalb eine private Zusatzversicherung ab, um besser behandelt zu werden. „Der NHS sieht zwar so aus, als sei er für alle da, in Wahrheit haben wir jedoch längst ein Zweiklassensystem“, bestätigt El-Gingihy. Aus seiner Sicht ähnele das Gesundheitssystem auf der Insel immer mehr jenem in den USA. „Natürlich wird jeder behandelt, aber eben nicht jeder gleich.“ Tatsächlich bieten immer mehr Unternehmen ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern private Krankenzusatzversicherungen an. Wer gesund bleiben will, braucht mehr als den NHS, so die damit einhergehende Botschaft.

Dass dies so ist, zeigen die langen Wartelisten. Wer einen Facharzttermin benötigt, muss sich oft monatelang gedulden, um einen Termin zu erhalten. Einen Überblick über die Zeiten bietet die Internetseite des NHS. In London warten Patientinnen und Patienten aktuell circa 28 Wochen auf eine Operation am University College London. Der Rückstau bei den Terminen weitete sich infolge der Corona-Pandemie aus. Die Lage verbesserte sich seit dem vergangenen Jahr zwar leicht, ist aber immer noch fatal. So erhöht sich der Druck auf die Hausarztpraxen weiter. „Zumindest im Fall von Krebs geht es schneller, aber selbst da kommt es manchmal zu Verzögerungen“, sagt El-Gingihy.

Ein Wettlauf gegen die Zeit

Gegen Mittag dieses Februartages beginnt sein persönlicher Wettlauf gegen die Zeit. Der Hausarzt greift zum Hörer seines Telefons und erledigt die ersten Anrufe des Tages. Am Nachmittag finden dann die Termine vor Ort statt. Oft handele es sich um „Brot und Butter“-Angelegenheiten, wie er sagt. Infekte, chronische Leiden, aber auch psychische Probleme. „Die Menschen stehen einfach wahnsinnig unter Druck“, sagt der GP. Die Pandemie, die hohe Inflation und die steigenden Lebenshaltungskosten verschlimmerten die Situation, räumt er ein. Insbesondere Familien mit Kindern sind von Armut betroffen, weil die konservative Regierung die Situation nicht in den Griff bekommt.

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Die telefonische Beratung, welche während der Pandemie in der Breite eingeführt wurde, erleichtere es, das Pensum zu bewältigen. „Manche Patienten finden sie praktischer, weil es sich etwa gut mit der Arbeit verbinden lässt“, erklärt Hoddinott. Auch El-Gingihy ist über diese Lösung froh, denn er spart damit Zeit. „So viele Patienten pro Tag in der Praxis zu sehen ist schwierig, weil es dann oft länger dauert.“

Ob es allerdings die bessere Behandlung ist, weiß der Arzt nicht mit Sicherheit zu sagen. Hoddinott verweist in diesem Zusammenhang auf den „Türknaufeffekt“. Gemeint ist, dass Patientinnen und Patienten während eines Termins nicht selten die meiste Zeit über Kleinigkeiten sprechen, um das wichtigste Symptom erst kurz vor dem Verlassen der Praxis zu erwähnen, wenn sie die Klinke schon in der Hand haben. In anderen Worten: Telefonate sind effizient, verringern jedoch möglicherweise den Erkenntnisgewinn während des Termins.

Bus statt Taxi

Das hat Folgen: Eine Studie des Institute of Government zeigt, dass die Zufriedenheit mit der Leistung der Allgemeinärzte zwar immer noch hoch, aber insgesamt rückläufig ist: Nur rund 72 Prozent der Briten beschrieben ihre Erfahrung im Jahr 2022 als „gut“ oder „sehr gut“, verglichen mit 83 Prozent im Vorjahr: ein drastischer Rückgang. Bei aller berechtigten Kritik am NHS hätten die Menschen teilweise aber auch zu hohe Erwartungen, meinen einige GPs. „Sie wünschen sich ein Taxi, aber der NHS ist eher ein Bus. Er transportiert dich ein Stück des Weges, gemeinsam mit vielen anderen Menschen“, sagt El-Gingihy.

Um in Zukunft zumindest den Fahrplan einzuhalten, bräuchte es aber in jedem Fall eine höhere Anzahl von Ärztinnen und Ärzten, vor allem in sozial benachteiligten Gegenden des Landes, wo es Menschen oft ohnehin gesundheitlich schlechter geht, betont Hoddinott. Zudem müsste deutlich mehr Geld investiert werden, in die Pflege Älterer zum Beispiel und im Bereich psychischer Erkrankungen. Auch El-Gingihy beklagt die Sparmaßnahmen und die Privatisierung des Gesundheitssystems, mit der die Schließung vieler Kliniken einherging. Er hat sogar ein Buch darüber geschrieben: „How to Dismantle the NHS in 10 Easy Steps“ („Wie der NHS in zehn einfachen Schritten auseinandergenommen wird“).

Trotz aller Kritik: GP ist und bleibt der 42-jährige Vater einer Tochter aus Überzeugung. Denn jeder Tag biete etwas Neues: „Ich weiß nie, wer durch die Tür hereinkommt, und ich bekomme die ganze Bandbreite der Medizin zu sehen.“ Es sei bereichernd, sich um Familien zu kümmern. „Ich sehe, wie Babys zu Kindern und schließlich zu Erwachsenen werden.“ Ob er den Beruf unter den jetzigen Bedingungen noch einmal ergreifen würde? Ganz sicher sei er sich da nicht. „Aber ich wüsste auch nicht, welcher besser zu mir passen würde.“

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