„Wie konnte das passieren?“

Tödliche Messerattacke: Verdächtiger kurz zuvor aus Haft entlassen – Behörden in der Kritik

Bei einer Messerattacke in einem Regionalzug von Kiel nach Hamburg sind zwei Menschen getötet und mehrere verletzt worden.

Bei einer Messerattacke in einem Regionalzug von Kiel nach Hamburg sind zwei Menschen getötet und mehrere verletzt worden.

Brokstedt/Kiel. Nach der Messerattacke mit zwei Toten in einem Regionalzug in Schleswig-Holstein gibt es weiter offene Fragen zum Umgang der Behörden mit dem zuvor straffällig gewordenen Tatverdächtigen. Die Frage sei, ob die Bluttat, die ein 33-jähriger staatenloser Palästinenser begangen haben soll, hätte verhindert werden können, sagte Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) am Donnerstagabend in Brokstedt. Aufgeklärt werden müsse, „wie konnte es sein, dass ein solcher Täter noch hier im Land war“.

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Bei der Messerattacke im Zug von Kiel nach Hamburg waren am Mittwoch eine 17-Jährige und ein 19-Jähriger getötet sowie fünf weitere Reisende teils schwer verletzt worden. Auf dem Bahnhof von Brokstedt wurde der Angreifer von der Polizei festgenommen, nachdem andere Fahrgästen ihn überwältigt hatten.

Vor wenigen Tagen aus Haftanstalt entlassen

Der 33-jährige Tatverdächtige war erst vor wenigen Tagen auf Beschluss des Landgerichts Hamburg aus der Justizvollzugsanstalt Billwerder entlassen worden, wo er wegen eines Gewaltdelikts in Untersuchungshaft saß. Seit seiner Einreise nach Deutschland 2014 war der Mann nach Angaben der Behörden mehrfach mit Gewaltdelikten auffällig geworden. Ein subsidiärer Schutzstatus verhinderte seine Abschiebung. Zu der aktuellen Tat schwieg er bislang.

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„Wie konnte das passieren, dass er trotz so vieler Vorstrafen nicht länger in einer Justizvollzugsanstalt war?“, fragte Faeser, die mit Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther (CDU) nach Brokstedt gekommen war. Nun müsse geklärt werden, wie es passieren konnte, „dass er so früh aus der Untersuchungshaft wieder entlassen wurde“, sagte Faeser, und „warum Menschen, die so gewalttätig sind, noch hier in Deutschland sind“.

Nancy Faeser (SPD), Bundesinnenministerin, beantwortet die Fragen der Medienvertreter.

Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) beantwortet nach der tödlichen Messerattacke die Fragen der Medienvertreter.

Psychiater stellte keine Fremd- und Selbstgefährdung fest

Nach Angaben der Hamburger Justizbehörde war der Verdächtige wenige Tage vor der Attacke im Zug in der Justizvollzugsanstalt Billwerder psychiatrisch beurteilt worden. „Ein Psychiater hat kurz vor der Entlassung keine Fremd- und Selbstgefährdung festgestellt“, sagte eine Sprecherin am Donnerstagabend. Deshalb habe es auch keine belastbaren Anhaltspunkte dafür gegeben, eine rechtliche Betreuung zu beantragen oder den Sozialpsychiatrischen Dienst einzuschalten.

Sein Anwalt Björn Seelbach sagte gegenüber dem „Spiegel“, dass man seinen Mandanten auf seine Entlassung hätte vorbereiten können. Bevor er in Haft kam, war er obdachlos. Familienangehörige habe er in Deutschland keine. Die Familie des Tatverdächtigen lebte dem Anwalt zufolge im Gazastreifen und sei von der Terrororganisation Hamas drangsaliert worden. „Das war der Grund für seine Flucht“, erklärte der Jurist gegenüber dem Magazin.

Gericht schätzte Straftatenrisiko des Tatverdächtigen auf 50 Prozent

Im Gazastreifen habe er schwere Misshandlung erlebt, hieß es in einem Urteil vom August 2022 gegen den Verdächtigen wegen eines ähnlichen Messerangriffs. Einen Onkel habe die Hamas getötet. Seine Eltern seien 2010 und 2012 gestorben. Sechs Geschwister lebten im Augst 2022 noch im Gazastreifen.

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Nach seiner Einreise im Jahr 2014 habe der mutmaßliche Täter mehrere Jobs gehabt, unter anderem als Fahrer für Amazon und DHL. Einen Beruf habe er aber nicht erlernt. Das Gericht sah ein Risiko von 50 Prozent, dass er wieder Straftaten begehen werde. Es fehle an einer „günstigen Sozialprognose“.

Kubicki fordert „volle Breitseite des Rechtsstaates“

Auf einen terroristischen Hintergrund der Tat gibt es laut Staatsanwaltschaft Itzehoe keine Hinweise. Nach Angaben von Schleswig-Holsteins Innenministerin Sabine Sütterlin-Waack (CDU) erbrachte die Vernehmung des Mannes bisher auch noch keine Ergebnisse, so dass über dessen Motive nichts gesagt werden könne. Sie warnte deshalb vor zu schnellen politischen Forderungen als Reaktion auf das schreckliche Geschehen.

Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki sagte „Bild“, es brauche die „volle Breitseite des Rechtsstaates“. „Diese Taten müssen uns schon zu der Frage führen: Was ist zwischen 2014 und 2016 falsch gelaufen?“ Kubicki mahnte, die „Integrationsfähigkeit unseres Landes im Auge“ zu behalten. Deutschland könne nicht „unendlich viele Menschen aufnehmen, die wir dann auch nicht mehr betreuen und integrieren könnten“.

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Augenzeuge schildert Messerangriff im Regionalzug

Ein Angreifer in einem Regionalzug zwischen Kiel und Hamburg tötete am Mittwoch zwei Menschen.

Gewerkschaft der Polizei will mehr Polizeipräsenz an Bahnhöfen

Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) forderte als Konsequenz aus der Tat mehr Polizisten und Sicherheitspersonal etwa an Bahnhöfen. „Die Bundespolizei ist an den Bahnhöfen zu schwach aufgestellt. Es fehlt an 3000 Stellen“, sagte Andreas Roßkopf, bei der GdP zuständig für den Bereich Bundespolizei und Zoll, dem RedaktionsNetzwerk Deutschland. „Und es fehlt auch an Sicherheitskräften bei der Bahn.“ Die Deutsche Bahn verwies darauf, dass neben knapp 5500 Beamten der Bundespolizei rund 4300 Sicherheitskräfte rund um die Uhr an Bahnhöfen und in Zügen im Einsatz seien.

Nach Angaben der Behörden kannten sich die Getöteten. Beide hätten eine Berufsschule in Neumünster besucht. Schleswig-Holsteins Bildungsministerin Karin Prien (CDU) wollte am Freitag dort sein, um mit Schulleitung, Lehrkräften und den Mitschülerinnen und Mitschülern zu sprechen. Freunde und Mitschüler bräuchten jetzt sofort besondere Unterstützung, um das Geschehene zu verarbeiten.

Faeser und Günther danken Einsatzkräften

Faeser und Günther gedachten am Donnerstag in Brokstedt der Opfer und kamen auch mit Einsatzkräften zusammen, die am Mittwoch als erste an dem Zug waren, um zu helfen. Alle hätten einen „großartigen Job geleistet“, sagte Günther. „Wir haben ihnen unseren Dank und unseren Respekt zum Ausdruck gebracht.“ Am Abend kamen am Bahnhof rund 100 Menschen mit Kerzen zusammen.

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Mit einer Andacht will die Evangelisch-Lutherische Kirchengemeinde Brokstedt an diesem Freitag an die Opfer erinnern. Laut Kirchenkreis Altholstein ist die Andacht für 17 Uhr in der Brokstedter Kirche angesetzt. Besucherinnen und Besucher können eine Kerze entzünden. Es soll zudem den Rettungskräften gedankt werden.

RND/dpa

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