Humanitäre Krise in Afghanistan: „Familien müssen sich zwischen Essen und Heizen entscheiden“
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Afghanische Mütter kümmern sich um ihre Säuglinge in einer Station für schwere Unterernährung in einem Krankenhaus in Kabul.
© Quelle: Oliver Weiken/dpa
Kabul. Der zweite Winter unter Herrschaft der Taliban dürfte für viele Menschen in Afghanistan noch härter werden als der erste. „Es ist sehr ernst und die Leute werden um ihr Leben kämpfen“, sagte Martin Schüepp, Direktor der Abteilung Feldeinsätze beim Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK), in einem Interview.
Die Machtübernahme der Taliban im August 2021 hat die Wirtschaft Afghanistans abstürzen lassen. Millionen Menschen wurden in Armut und Hunger getrieben. Das berichtet auch der Schweizer Lucien Christen im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Er ist seit rund sieben Monaten für das IKRK in Kabul im Einsatz. „Die ganzen Botschaften und viele Hilfsorganisationen haben das Land damals quasi über Nacht verlassen“, sagt er. Nur wenige seien geblieben.
Hunderttausende verlieren Arbeit
Hunderttausende Menschen haben nach dem überstürzten Abzug der internationalen Truppen ihre Arbeit verloren. Das Einfrieren von Devisenreserven im Ausland, der Stopp von Banküberweisungen und internationale Sanktionen setzen dem Land wirtschaftlich zusätzlich zu.
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Lucien Christen arbeitet für das Internationale Komitee vom Roten Kreuz in Afghanistan.
© Quelle: privat
„Die Situation wird jeden Tag schlimmer“, sagt Christen. Er befürchtet, dass der nahende Winter dazu seinen Teil beiträgt. „Nachts und morgens sind es schon jetzt um die 0 Grad“, berichtet er. „Viele Familien müssen sich zwischen Essen und Heizen entscheiden. Oft fehlt das Geld für beides.“ Auch warme Kleidung sei in vielen Familien Mangelware.
24 Millionen Menschen benötigen humanitäre Hilfe
Zahlen des IKRK zeigen, wie drastisch die Lage jetzt schon ist: Mehr als die Hälfte der Bevölkerung (24 Millionen Menschen) benötigt demnach humanitäre Hilfe in dem Land. Etwa die Hälfte (20 Millionen Menschen) ist akut von Ernährungsunsicherheit betroffen.
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„Besonders betroffen sind Kinder, sie sind die verletzlichste Gruppe in der Gesellschaft“, sagt Christen dem RND und verdeutlicht das mit einer Statistik: „Die Fälle von Unterernährung bei Kindern sind in diesem Jahr bereits um 90 Prozent höher als im gesamten Jahr 2021 und sind auf mehr als 63.000 Fälle gestiegen.“
Auch die Anzahl der Lungenentzündungen bei Kindern steige stark an: „In einem vom IKRK unterstützten Kinderkrankenhaus in Kabul ist die Zahl der wegen Lungenentzündung behandelten Kinder unter fünf Jahren 2022 um 55 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum gestiegen“, sagt er. Und befürchtet, dass sich das bei kälteren Temperaturen nochmal verschlechtern werde.
Rotes Kreuz zahlt Gehälter für medizinisches Personal
Christen berichtet von einem Projekt, dass das IKRK aus der Not gestartet habe. Die Organisation zahle jeden Monat Gehälter für 10.500 medizinische Fachkräfte, um eine medizinische Grundversorgung im Land aufrecht zu erhalten. Ein Drittel davon seien Frauen, die es seit der Übernahme der Taliban besonders schwer in dem Land haben, weil die Taliban sie aus fast allen Berufen gedrängt haben. Zudem zahle das Rote Kreuz für Medikamente und laufende Kosten des Krankenhauses wie etwa Elektrizität oder Benzin. Denn die Taliban-Regierung habe all das nicht mehr zahlen können und damit habe das Gesundheitssystem vor einem Kollaps gestanden. Das konnte zunächst verhindert werden.
Doch der Rote-Kreuz-Mitarbeiter gibt zu bedenken: „Das ist eine Notfalllösung, wir haben auch keine unendlichen Ressourcen.“ Dabei habe das IKRK sein Budget für Afghanistan bereits fast verdoppelt auf rund 200 Millionen Euro, rund 2000 Menschen arbeiteten aktuell für die Hilfsorganisation in dem Land. „Aber die Politik muss Langzeitlösungen finden“, betont Christen. Er ruft auch die internationale Gemeinschaft auf, wieder in Afghanistan zu helfen.
Lebensmittel und Grundversorgungsgüter dramatisch teurer
Neben den Schwierigkeiten mit dem Gesundheitssystem kommt erschwerend dazu, dass Lebensmittel und andere Grundversorgungsgüter durch die Inflation dramatisch teurer geworden sind. „Man sieht viele Menschen in den Straßen, die bei Bäckereien nach Essen fragen, oder die versuchen, ihre Habseligkeiten zu verkaufen, darunter auch viele Kinder“, berichtet Christen, was er in den Straßen von Kabul beobachtet. Manche räumten ihre ganzen Häuser leer, um von den Verkäufen leben zu können.
Laut der Organisation Save the Children haben 97 Prozent aller Familien Schwierigkeiten, genug Essen für ihre Kinder aufzutreiben. Haushalte, die von Frauen geführt werden, trifft es besonders hart. Einem im Spätsommer veröffentlichten Bericht der Organisation zufolge gab jedes vierte für den Report befragte Kind an, von der Familie gebeten worden zu sein, zu arbeiten.
Armut und Kinderarbeit kein neues Problem in Afghanistan
Dabei sind Armut und Kinderarbeit kein neues Problem in Afghanistan. Das weiß auch Christen vom Roten Kreuz. Während unter der Regierung des geflohenen Präsident Aschraf Ghani die Korruption grassierte, kam in den ländlichen Gebieten kaum etwas an von den Unsummen an westlichen Hilfsgeldern, die das Land aufbauen sollten. Doch der IRKR-Mitarbeiter sieht, dass es immer schlimmer wird: „Die ganzen Probleme haben seit dem August 2021 enorm zugenommen.“
mit Material von AP und dpa