Wen interessiert noch Bachmut? Wie in Belgorod um unsere Aufmerksamkeit gekämpft wird
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Das vom russischen Verteidigungsministerium veröffentlichte Bild zeigt zerstörte Fahrzeuge, die von proukrainischen Kräften beim Angriff in Belgorod genutzt worden sein sollen.
© Quelle: IMAGO/SNA
Alarm im Kreml. Proukrainische Saboteure treiben sich auf russischem Territorium herum, wollen offenbar Dörfer besetzen. Ungläubig schauen viele auf die Meldungen und das, was sich nur wenige Kilometer von der Grenze zur Ukraine entfernt abspielt. Zwei Tage lang hielten ein paar Unruhestifter russische Spezialeinheiten, Armee und Grenzschutz auf Trab, konnten ohne viel Aufsehen mit Panzern und gepanzerten Fahrzeugen an Grenzposten vorbei und Bewohner russischer Dörfer in Panik versetzen. Die ganze Welt sah mit an, dass die Russen offensichtlich nicht in der Lage sind, ihre eigene Grenze zu schützen.
Belgorod – ein kluges Ablenkungsmanöver?
Für Russland ist es ein verheerendes Bild, das von dieser Operation in der Region Belgorod ausgeht: Zwei Tage lang wurde Russland von ukrainischen Kräften vorgeführt, musste Kremlchef Wladimir Putin mit ansehen, wie ihm die Kontrolle auf dem eigenen Staatsgebiet entglitten war.
Der Angriff in Belgorod könnte sich als kluges Ablenkungsmanöver der Ukraine herausstellen. Denn alle Augen sind nun auf Belgorod gerichtet und die zur Schau gestellte Unfähigkeit russischer Kräfte dominiert den Informationsraum. Russlands Einnahme von Bachmut, diese langersehnte Erfolgsmeldung von Wagner und Putin und Russlands monatelang ausgerufenes Ziel, das nun endlich erreicht wurde – keiner spricht mehr darüber. Dass Russland mit Bachmut seit Monaten endlich wieder einen (wenn auch symbolischen) Sieg verbuchen konnte, ist eine Nachricht von gestern. Heute blickt die Welt auf Belgorod und wie sich Russlands Schwäche dort offenbart.
„Die Ukraine hat es geschafft, die Niederlage in Bachmut im Informationsraum sehr schnell verschwinden zu lassen“, sagt Thomas Jäger, Professor für Internationale Politik und Außenpolitik an der Universität zu Köln. „Wenn eine Gruppierung über mehrere Tage Unruhe in Russland stiften kann, ist das für russische Sicherheitskräfte höchst blamabel“, so Jäger im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND).
Informationskrieg zwischen Ukraine und Russland
Russlands Krieg gegen die Ukraine war immer auch ein Krieg um den Informationsraum und die Aufmerksamkeit der Welt. Für beide Seiten geht es darum zu beweisen, dass sie die Kontrolle über den Krieg besitzen. Den Krieg um die Informationen, den Krieg um das Land.
Sowohl die Ukraine als auch Russland müssen zeigen, so Jäger, dass sie den Krieg gewinnen können – um sich ihre Unterstützung zu sichern. „Die Ukraine kämpft um die Unterstützung der westlichen Regierungen und Gesellschaften, Russland um die Unterstützung der eigenen Bevölkerung und will den westlichen Unterstützern zeigen, dass ihre Hilfe für die Ukraine Russlands Sieg nicht abwenden kann“, sagt Jäger.
Unklare Lage in russischer Grenzregion Belgorod
Russische Freiwilligenkorps reklamierten die Angriffe für sich. Die Lage in der russischen Region Belgorod an der Grenze zur Ukraine ist aber weiter unklar.
© Quelle: Reuters
Vom Fokus der Aufmerksamkeit der westlichen Regierungen und Gesellschaften hängt die Unterstützung der Ukraine mit Waffen und Geld ab, die Sanktionen gegen Russland, der Druck für potenzielle Verhandlungen und die Bereitschaft der Menschen in Deutschland, die Folgen des Krieges weiterhin in Kauf zu nehmen. Letztlich das Überleben der Ukraine.
Zwei Narrative zu Bachmut
Und die Ukraine beherrscht den Kampf um den Informationsraum gut: Die schockierenden Bilder aus Butscha gingen um die Welt, der Name des kleinen Ortes steht heute für die grausamen Kriegsverbrechen der russischen Armee. Der Energieterror Russlands, der international verurteilt wurde, aber auch der ungeschützte 60 Kilometer lange russische Militärkonvoi Richtung Kiew letztes Jahr, der Russlands Streitkräfte wie Dilettanten aussehen ließ. Zuletzt reihte sich auch der Angriff mit zwei Kampfdrohnen auf den Kreml vor wenigen Wochen in die lange Liste ein, und nun der Vorfall in Belgorod, der schon der Zweite dieser Art ist.
+++Alle Entwicklungen zum Krieg in der Ukraine+++
Wie der Krieg auf beiden Seiten um die Deutungshoheit geführt wird, zeigt einmal mehr der Fall der Stadt Bachmut. Beide Seiten behaupteten gleichermaßen, der Kampf zwischen den Ruinen Bachmuts habe sich gelohnt, weil man dort viele gegnerische Soldaten ausschalten konnte. Und während die Russen nicht müde wurden, wieder und wieder die angeblich große Bedeutung Bachmuts zu betonen, verbreitete die Ukraine seit dem sich abzeichnenden Verlust der Stadt das Narrativ, Russlands Kampf um ein paar Ruinen sei unbedeutend und sinnlos. Beide Seiten fanden am Ende mit ihrem Narrativ bei ihrem Publikum Gehör.
Zu Beginn des Krieges hatten viele Expertinnen und Experten der Ukraine keine echten Chancen gegen das scheinbar übermächtige Russland gegeben. Aus diesem Eindruck habe sich die Regierung in Kiew herausgearbeitet, so Jäger. „Die Ukraine versucht, sich im Informationsraum als eine Kriegspartei darzustellen, die den Krieg gewinnen kann.“ Dazu sei ein schwacher Gegner, ein schwaches Russland, sehr gut geeignet.
Russland schwach reden? Das funktioniere jedoch nur, macht Jäger deutlich, wenn es auch Situationen gebe, in denen die Russen tatsächlich schwach seien. Die Zwischenfälle in Belgorod seien solche Situationen.
So erscheint der Angriff in Belgorod wie ein cleverer Trick der Ukraine, um von Bachmut abzulenken und wieder den Informationsraum zu beherrschen. Die Russen wurden eiskalt überrascht.