Schottland

Das ungeeinte Königreich

Nicola Sturgeon, Erste Ministerin von Schottland, hält das Parteiprogramm der SNP – mit dem sie für die schottische Unabhängigkeit wirbt.

Nicola Sturgeon, Erste Ministerin von Schottland, hält das Parteiprogramm der SNP – mit dem sie für die schottische Unabhängigkeit wirbt.

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In Schottland wächst zum Jahreswechsel einmal mehr das Verlangen nach Selbstbestimmung und einem neuen Unabhängigkeitsreferendum. Jüngsten Umfragen des britischen Meinungsforschungsinstituts YouGov zufolge sprechen sich inzwischen wesentlich mehr Schotten für die staatliche Eigenständigkeit als für den Verbleib in Großbritannien aus.

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Sieht man vom unentschiedenen Teil der Befragten ab, kommen die Unabhängigkeitsbefürworter in Schottland laut YouGov jetzt auf 53 Prozent und die Gegner nur noch auf 47 Prozent – ein deutlicher Stimmungsumschwung seit der vergangenen Umfrage im Oktober, als der Anteil der Gegner schottischer Unabhängigkeit noch knapp überwog.

Demonstranten schwenken Fahnen während einer Kundgebung für die schottische Unabhängigkeit auf dem George Square in Glasgow.

Demonstranten schwenken Fahnen während einer Kundgebung für die schottische Unabhängigkeit auf dem George Square in Glasgow.

Wachsender Unmut über die Regierung in London

Einen ähnlichen Trend haben drei separate Erhebungen anderer Umfrageinstitute in den vergangenen Wochen ergeben. Als Hauptgrund für diese Entwicklung wird ein Urteil des Obersten Gerichtshofs Großbritanniens betrachtet, das im vergangenen Monat erging und in dem das Gericht es den Schotten verbot, ein Unabhängigkeitsreferendum ohne Zustimmung aus London in die Wege zu leiten.

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YouGov zufolge finden 57 Prozent der Schotten, die dazu eine Meinung vertreten, dass Schottland auf jeden Fall das Recht haben müsse, ein neues Referendum abzuhalten. Wachsender Unmut darüber, dass die Zentralregierung in London den Schotten eine neue Volksabstimmung beharrlich versagt, stärkt offensichtlich das Lager der Separatisten, das angeführt wird von den beiden Regierungsparteien in Edinburgh – der Schottischen Nationalpartei (SNP) und den schottischen Grünen.

Etliche Schotten klagen neuerdings, „Englands Tories“ hätten Schottland „versklavt“ und wollten es gegen seinen Willen im Vereinigten Königreich festhalten. Von einer freiwilligen Partnerschaft beider Länder könne keine Rede mehr sein.

Schottland verlangt ein Referendum

Die SNP-Vorsitzende und schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon hat zwar beteuert, dass sie das Urteil des Obersten Gerichts respektiere und kein Referendum plane, das rechtlich angefochten werden könnte. Sie halte aber daran fest, dass sie in Schottland über ein Wählermandat verfüge, um eine Volksabstimmung von London zu verlangen.

Sturgeon hat nun vor, die nächsten britischen Unterhauswahlen, die bis Ende 2024 stattfinden müssen, in ein „De-facto-Referendum“ über die schottische Unabhängigkeit umzufunktionieren. Ihre Partei soll in diese Wahlen mit nur einem einzigen Programmpunkt ziehen – dem der geforderten Unabhängigkeit.

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Wie das im Einzelnen aussehen soll, und ob es die Schotten einem Referendum wirklich näher bringen würde, ist einstweilen noch unklar. Selbst in den Reihen der SNP herrscht einige Skepsis, was diese Strategie betrifft.

Geringer Einfluss der Konservativen

Unterdessen versucht Sturgeons Regierung, sich in ihrer Politik bewusst und immer entschiedener von der der Tory-Regierung in London abzusetzen. Dank der begrenzten Selbstverwaltung, die Schottland genießt, und des geringen Einflusses der dortigen Konservativen bietet es schon jetzt in vielem bessere Sozialleistungen als der Rest Großbritanniens. So gibt es zum Beispiel Gratismedikamente auf Vorlage von Arztrezepten, gebührenfreie Studiengänge für in Schottland lebende Studenten und kostenlose persönliche Sozialhilfe für ältere Bürger im Land.

Während NHS-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter in England streiken, bietet Schottland Gehaltserhöhungen an.

Während NHS-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter in England streiken, bietet Schottland Gehaltserhöhungen an.

Bei ihrer jüngsten Haushaltserklärung hat die schottische Regierung außerdem Steuersätze, die sie ändern darf, für den wohlhabenden Teil der Bevölkerung leicht erhöht, um der wachsenden Zahl finanziell in Bedrängnis geratener Menschen zu helfen. Die Zusatzsteuern sollen auch eine halbe Milliarde Pfund extra liefern, die in den desolaten Gesundheitsdienst fließen soll.

Klinikstreiks, wie sie im Dezember in England stattgefunden haben, hat man in Schottland mit dem Angebot einer 7,5-prozentigen Lohnerhöhung an Krankenschwestern und Pfleger bisher vermeiden können – die für England zuständige Regierung Rishi Sunaks bot ihrem Krankenhauspersonal, bei einer Inflation von knapp 11 Prozent, nur 4 Prozent an.

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Zusätzliche Hilfe für bedürftige Bürger

Und um vollends deutlich zu machen, wo sie ihre gegenwärtigen Prioritäten sieht, hat Sturgeon jetzt 20 Millionen Pfund, die für die Ausrichtung eines Unabhängigkeitsreferendums reserviert waren, als zusätzliche Hilfe für bedürftige Bürger zum Bezahlen von Strom- und Gasrechnungen zur Verfügung gestellt.

Das ist selbst von der schottischen Opposition mit Beifall aufgenommen worden – weil es ihrer Ansicht nach zeigt, dass die SNP ihre Referendumspläne erst einmal aufgegeben hat. Sturgeons Kalkül könnte es freilich sein, dass sie die wachsende Zahl der unabhängigkeitswilligen Schotten noch weiter steigern kann, wenn sie ihren Mitbürgern zeigt, wie viel besser und sozialer ihre Politik ist als die „Tory-Englands“. Anders ausgedrückt: Wie viel mehr Schottland ihrer Ansicht nach bewirken könnte, wenn es ganz draußen wäre aus dem Vereinigten Königreich.

Die schottische Regierungschefin will ihr Land zurück in die Europäische Union führen. Ihre Argumentation: Der Brexit habe die Situation so verändert, dass ein neues Referendum stattfinden müsse. 2014 hatte sich eine Mehrheit der Schotten – 55,3 Prozent – gegen die Unabhängigkeit entschieden. Die Regierung in Edinburgh kündigte vor Weihnachten an, im kommenden März über ihre weitere Strategie in puncto Unabhängigkeit beraten zu wollen.

London ist alarmiert

Für London steht einiges auf dem Spiel: Die in Westminster regierende Konservative Partei bekommt schon seit Jahrzehnten in Wales und Schottland kein Bein mehr an die Erde und steht im Sonderfall Nordirland ohnehin nicht zur Wahl. Kritiker bemängeln, die Tories würden deshalb zunehmend eine nationalistisch-englische Politik betreiben. Die Gefahr dabei: Wenn die Tendenz andauert, könnte aus Großbritannien in einigen Jahren ein Kleinengland werden.

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