Streit bei „Hart aber fair“

Die Letzte Generation fordert einen Gesellschaftsrat: Innovation für die Demokratie oder Weg in die Räterepublik?

160 Menschen aus ganz Deutschland stimmten im Bürgerrat Demokratie über neue Ideen ab.

Abstimmung in einem Bürgerrat, nicht im Bundestag: Die Letzte Generation will einen Krisengipfel mit Bürgerinnen und Bürgern zur Klimapolitik.

Diejenigen, die ein Abdriften der Letzten Generation ins Antidemokratische befürchten, werden sich nach der „Hart aber fair“-Sendung am Montag bestätigt gefühlt haben. Die Aktivistinnen und Aktivisten würden eine Räterepublik in Deutschland errichten wollen, befürchtet etwa der AfD-Politiker Harald Laatsch. In der ARD-Talkshow war die Aktivistin Aimée van Baalen angetreten, um Werbung für einen „Gesellschaftsrat“ zu machen. Die weiteren Gäste – Gitta Connemann, Bundestagsabgeordnete der CDU, und Konstantin Kuhle, stellvertretender Fraktionsvorsitzender der FDP – schauten sichtlich irritiert ob der Forderung. Als van Baalen die Idee erklärte, Bürgerinnen und Bürger sollten in dem Gremium Gesetze erarbeiten und beschließen, entgegnete Kuhle: „Das ist doch der deutsche Bundestag!“

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Dabei ist van Baalens Forderung gar nicht so abwegig – worauf sie Kuhle auch hinwies. Der Gesellschaftsrat stehe so im Koalitionsvertrag. Tatsächlich ist dort – von SPD, Grünen und auch der FDP unterschrieben – gleich im ersten inhaltlichen Kapitel zu lesen: „Wir werden Bürgerräte zu konkreten Fragestellungen durch den Bundestag einsetzen und organisieren.“ Also alles nur ein Missverständnis zwischen der Aktivistin und dem Abgeordneten, oder doch eine undemokratische Forderung?

Die Politikwissenschaftlerin Brigitte Geißel forscht an der der Goethe Universität Frankfurt zu „demokratischen Innovationen“, zu denen sie auch Bürgerräte zählt. „Die Idee eines Bürgerrats, in dem zufällig ausgeloste Bürgerinnen und Bürger, die in ihrer Zusammensetzung dann zum Beispiel bei Alter und Geschlecht der deutschen Bevölkerung entsprechen, miteinander diskutieren, ist relativ neu“, sagt sie im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Durch das Losverfahren soll das Gremium repräsentativ zusammengesetzt sein, woraus sich dessen Legitimation speist – anders als Parlamente, die ihre Legitimation durch Wahlen erhalten.

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Eine Idee, die eingeschlagen hat

Mit sozialistischen Räterepubliken, wie manche sie befürchten würden, seien Bürgerräte nicht gleichzusetzen, sagt Geißel. Die innovative Idee habe in den vergangenen Jahren eingeschlagen: In Deutschland hat der Verein „Mehr Demokratie“ Bürgerräte organisiert, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat einen Bürgerrat zur Klimapolitik einberufen und in Irland wurde dadurch gar die Verfassung zugunsten der gleichgeschlechtlichen Ehe geändert. Die neue Beliebtheit der Bürgerräte zeigt sich auch an den Wahlprogrammen der Grünen: Lange Zeit wurde dort mehr direkte Demokratie durch Volksentscheide gefordert, zur Bundestagswahl 2021 wurde das ersetzt durch die Forderung nach Bürgerräten. Der Vorteil sogenannter deliberativer Elemente im Vergleich zu direkter Demokratie: „Eine Umfrage oder auch ein Volksentscheid produziert Ergebnisse, die eher aus dem Bauch heraus kommen. Bei Bürgerräten hingegen haben die Teilnehmenden Zeit, zusammen mit Expertinnen und Experten zu beraten und nach sinnvollen Lösungen zu suchen“, erklärt Geißel.

Sowohl Macrons Klimarat als auch ein in Deutschland von einem Verein organisierter „Bürgerrat Klima“ haben weitreichende Beschlüsse getroffen. Während die Ampelkoalition sich nicht zu einem Tempolimit durchringen kann, hat der deutsche Rat ein eben solches empfohlen. In Kleingruppen und einem großen Plenum erarbeitete das Gremium zahlreiche allgemeine, aber auch sehr detailversessene Vorschläge. Die 160 teilnehmenden Bürgerinnen und Bürger votierten unter anderem auch mehrheitlich für einen vorgezogenen Kohleausstieg 2030 und ein Werbeverbot für klimaschädliche Produkte. Genau in solchen Resultaten liege auch das Kalkül der Klimaaktivisten, glaubt Politikwissenschaftlerin Geißel: „Ihre sehr weitreichenden Positionen erhalten viel mehr Legitimation, wenn die Forderungen nicht nur von einem wilden Haufen kommen, sondern in einem repräsentativen Gremium eine Mehrheit erhalten.“

Die Ergebnisse der bisher in Deutschland organisierten Bürgerräte landen nach Ansicht der Letzten Generation aber zu oft in den Schubladen von Parteien und Ministerien, statt Eingang in Gesetze zu finden. Deshalb ist ihre Forderung, dass Regierungen sich schon im Vorfeld der Bürgerräte dazu bekennen, die Ergebnisse unabhängig von ihrem Inhalt umzusetzen. Genau hier liegt der Knackpunkt für den Streit bei „Hart aber fair“: Klimaaktivistin van Baalen will einen Rat, der Gesetze beschließen kann. Die Ampelkoalition hingegen will lediglich Räte, die dem Bundestag Empfehlungen aussprechen. „Eine Befassung des Bundestages mit den Ergebnissen wird sichergestellt“, heißt es aber im Koalitionsvertrag.

Für die Regierung sind die Räte fast schon beschlossene Sache

Auch Konstantin Kuhle weist im Gespräch mit dem RND darauf hin, dass die Ideen der Koalition und Letzten Generation nicht deckungsgleich seien. Deshalb habe er in der Sendung am Montag so ablehnend reagiert, obwohl es im Koalitionsvertrag den Hinweis auf Bürgerräte gibt. Sein SPD-Kollege Helge Lindh kann das nachvollziehen, auch er will keine gesetzgebenden Bürgerräte. Lindh war mitverantwortlich dafür, die Idee der Bürgerräte in den Koalitionsvertrag und auf den Weg zu bringen. Sein Zwischenfazit fällt positiv aus: Die Finanzen für drei deutschlandweite Bürgerräte bis 2024 sind geklärt, 3 Millionen Euro im Jahr sind vorgesehen. Außerdem ist die Ausschreibung, wer die Räte organisieren soll, gestartet.

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Lindh bedauert, dass durch die aktuelle Debatte das Instrument der Bürgerräte in Verruf kommen könnte. „Statt allergischer Reaktionen auf den Begriff wäre etwas mehr Gelassenheit wünschenswert“, sagt er. Die Erfahrungen mit vergangenen Bürgerräten im In- und Ausland zeigten, dass sie nichts mit einer Räterepublik gemeinsam hätten. Lindh sieht die Reaktion Kuhles bei „Hart aber fair“ in Teilen kritisch: „Wir sollten der Letzten Generation gegenüber nicht so bevormundend auftreten, was demokratisch ist und was nicht.“ Er nimmt auch sich und seine Partei in die Pflicht: „Aktuell werben wir noch nicht so viel für die Bürgerräte, weil wir wegen der Ausschreibung vorsichtig sein müssen. Wenn das durch ist, müssen wir aber offensiver kommunizieren, damit Missverständnisse über das Instrument nicht mehr auftreten und Menschen die Stärkung der parlamentarischen Demokratie durch solche Bürgerbeteiligung erkennen.“

Wie hilfreich sind Bürgerräte?

Kuhle klingt zurückhaltender als Lindh, wenn er über Bürgerräte spricht. Der FDP-Politiker sieht noch grundsätzliche Fragen, die offen seien: „Ein Konfliktpunkt bei der Ausgestaltung der Bürgerräte ist, wie stark sie institutionalisiert werden sollen. In der FDP sind wir der Meinung, dass es solche Räte eher anlassbezogen statt dauerhaft geben soll. Außerdem braucht es keine gesetzliche Verankerung von Bürgerräten.“ Fraglich sei außerdem, wie gut verwertbar Ergebnisse eines Bürgerrats für das Parlament seien – möglicherweise seien diese zu allgemein formuliert, als dass sie in der Praxis einen Mehrwert bei Beratungen im Bundestag bieten könnten.

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Beim Verein „Mehr Demokratie“ ist man überzeugt davon, dass Bürgerräte auch sinnvolle Ergebnisse liefern können. Claudine Nierth, Bundessprecherin des Vereins, der schon Bürgerräte in Deutschland organisiert hat, weist im Gespräch mit dem RND allerdings auch darauf hin, dass die Ideen der Letzten Generation nur mit einer Änderung des Grundgesetztes möglich wären. „Eine solche Schwächung des Parlaments entspricht nicht unserem Demokratieverständnis. Für die Debatte um Bürgerräte ist es fatal, dass die Aktivistinnen und Aktivisten die zwanghafte Umsetzung der Ergebnisse zum Thema machen. So ist ein Missverständnis entstanden.“

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Nierth schlägt vor, Ergebnisse von Bürgerräten wenn dann durch Volksentscheide bestätigen zu lassen – so bliebe die letzte Entscheidung nicht beim Rat, sondern würde durch eine Abstimmung legitimiert werden. Ihrer Ansicht nach braucht es aber gar nicht unbedingt ein zusätzliches Druckmittel, damit Ergebnisse von Bürgerräten tatsächlich auch in Gesetzesform gegossen werden. „Den Politikerinnen und Politiker, mit denen ich spreche, ist bewusst, dass ein mit viel Geld organisierter Bürgerrat, der medial groß begleitet wird, nicht bloß eine Showveranstaltung bleiben darf. Sie wissen, dass das für Unmut in der Bevölkerung sorgen würde.“

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