Länder nach Flüchtlingsgipfel noch nicht am Ziel: „Die Diskussion ist nicht zu Ende“
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Stephan Weil (SPD, von links), Ministerpräsident von Niedersachsen und amtierender Vorsitzender der Ministerpräsidentenkonferenz (MPK), Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und Hendrik Wüst (CDU), Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, äußern sich bei der Pressekonferenz nach dem Bund-Länder-Gipfel im Bundeskanzleramt.
© Quelle: Bernd von Jutrczenka/dpa
Berlin. Bund und Länder haben beim Flüchtlingsgipfel einen Kompromiss gefunden. Demnach soll der Bund den Ländern für dieses Jahr eine zusätzliche Milliarde Euro für Unterbringung und Versorgung der Geflüchteten zahlen, geht aus einem am Mittwochabend veröffentlichten Beschluss von Bund und Ländern hervor. Außerdem ist vereinbart worden, die Digitalisierung der Ausländerbehörden massiv voranzutreiben.
Damit vertagten Bund und Länder ihre Grundsatzentscheidung über dauerhaft höhere Bundesmittel für die Flüchtlingskosten. Die Länder und Kommunen forderten eine vollständige Übernahme der Kosten für Unterkunft und Heizung für Geflüchtete durch den Bund. Offen sind auch die Fragen nach höherer Kostenbeteiligung für Integration und für minderjährige Geflüchtete.
Grundsatzentscheidung auf November vertagt
Wörtlich heißt es in dem Beschlusspapier zur Forderung der Bundesländer: „Aus Sicht der Länder bedarf es eines atmenden Systems, bei dem sich die finanzielle Unterstützung des Bundes an den Zugangszahlen der Geflüchteten orientiert.“ Neben einer monatlichen Pro-Kopf-Pauschale solle darin unter anderem eine vollständige Erstattung der Kosten der Unterkunft enthalten sein. Der Bund erklärte dagegen, er sehe ein „atmendes System für die Unterstützung“ als bereits etabliert an.
Eine Grundsatzentscheidung soll bei der nächsten regulären Sitzung im November gefällt werden. Im Juni, beim nächsten Treffen zwischen Bund und Ländern, soll über den Zwischenstand gesprochen werden.
Scholz resümiert: „Ein guter Tag des deutschen Föderalismus“
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sprach von einem „konstruktiven und guten“ Treffen. „Ich finde, das ist ein guter Tag des deutschen Föderalismus, den wir heute haben“, sagte er auf einer Pressekonferenz nach den Beratungen. Es sei gut für die Demokratie, gemeinsam Lösungen zu entwickeln.
Man sei sich einig, dass es sich bei der Bewältigung der Fluchtmigration um eine dauerhafte Aufgabe von Bund, Ländern und Kommunen handele, hielten die Teilnehmenden des Treffens weiter fest. Vor diesem Hintergrund wollten Bund und Länder miteinander klären, wie die Finanzierung dieser Aufgabe in Zukunft geregelt werden könne. Scholz sah die vertagte Grundsatzentscheidung als offenen Prozess. „Wir haben eine Diskussion vor uns, die auch jede Mühe wert ist, das will ich ausdrücklich sagen. Aber die Aufgabe zu lösen ist auch nicht einfach, weil in den letzten Jahren viel passiert ist“, sagte der Bundeskanzler. „Wir gehen da als offener Prozess rein, und das Ergebnis kann niemand vorhersagen.“
Weil spricht von „schwierigen Gesprächen“
Eine ähnliche Position wie Scholz vertrat der Vorsitzende der Ministerpräsidentenkonferenz (MPK), Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD). Die zusätzliche Milliarde Euro sei „wichtig“, allerdings hätten sich Bund und Länder noch nicht so angenähert, wie es sich die Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten gewünscht hatten. „Die Diskussion ist nicht zu Ende.“
Weil betonte auf der Pressekonferenz, dass es „schwierige Gespräche“ gewesen seien. „Ich bin froh, dass wir es geschafft haben, uns auf eine gemeinsame Position zu verständigen.“ Der Ausgang der Gespräche sei besser gewesen, als er es noch vor einem oder zwei Tagen erwartet hätte. Für Weil sei es ein Fortschritt, dass es nicht zu keiner Einigung gekommen sei. „Das hätte man sich heute Morgen noch ganz anders vorstellen können“, sagte er.
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Wüst: „Mehr war eben nicht drin“
Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) bezeichnete die eine Milliarde Euro bei der Pressekonferenz als „nicht ausreichend, weil es eine Einmalzahlung ist“. „Mehr war eben nicht drin. Das muss man heute so klar sagen“, betonte er. Dennoch sei die zusätzliche Milliarde vom Bund anzuerkennen. Außerdem gebe es nun immerhin einen Fahrplan, wie auf dem Weg zu einer dauerhaft fairen, verlässlichen Finanzierung voranzuschreiten sei.
Noch vor dem Start der Beratungen hatte Wüst gesagt, dass Teilergebnisse, die keinen Einstieg in dauerhafte Finanzierungszusagen bedeuten würden, „kein Ergebnis“ der Bund-Länder-Runde wären. Nun erklärte er: „Wir haben einen Prozess vereinbart. Das zeigt, dass wir noch kein Ergebnis haben.“ Aber: „Wir haben uns verabredet, zu arbeiten.“
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Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU).
© Quelle: Bernd von Jutrczenka/dpa
Bayern, Sachsen und Sachsen-Anhalt üben Kritik: „Bund entzieht sich seiner Verantwortung“
In einer gemeinsamen Protokollerklärung erklärten die Länder Bayern, Sachsen und Sachsen-Anhalt, dass das zentrale Problem die fortgesetzte irreguläre Migration sei. „Alle bisher von Bundesseite getroffenen Maßnahmen haben nicht zu einer nachhaltigen Zuzugsbeschränkung geführt“, hieß es in dem am Mittwochabend veröffentlichten Papier.
Eine deutlich größere finanzielle Unterstützung des Bundes wäre daher zwingend erforderlich, damit Länder und Kommunen die Herausforderungen durch Flucht und Migration weiterhin angemessen bewältigen können. „Die vom Bund vorgesehene Erhöhung um eine Milliarde Euro ist völlig unzureichend und wird der Belastungssituation vor Ort in keiner Weise gerecht. Der Bund entzieht sich hier seiner Verantwortung, die er aufgrund seiner Zuständigkeit für die Ordnung und Steuerung des Migrationsgeschehens trägt“, kritisierten die drei Bundesländer. Es brauche eine dauerhafte und atmende Regelung, die sich automatisch den jeweiligen Flüchtlingszahlen und Kostensteigerungen anpasse und damit auch Verlässlichkeit für die Länder und Kommunen schaffe.
Bund und Länder wollen Ausreisegewahrsam verlängern
In den ersten vier Monaten dieses Jahres hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 101.981 Asylerstanträge entgegengenommen. Das ist eine Zunahme der Antragszahlen um rund 78 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Hauptherkunftsländer waren seit Jahresbeginn Syrien, Afghanistan und die Türkei. Im vergangenen Jahr hatten rund 218.000 Menschen erstmals einen Asylantrag in Deutschland gestellt. Außerdem müssen die Kommunen mehr als eine Million Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine unterbringen. Diese müssen keine Asylanträge stellen.
Um Deutschlands Kommunen angesichts steigender Flüchtlingszahlen zu entlasten, sollen Asylverfahren beschleunigt und Abschiebungen konsequenter durchgesetzt werden. Unter anderem hätten sich Bund und Länder darauf verständigt, die maximale Dauer des Ausreisegewahrsams von derzeit zehn auf 28 Tage zu verlängern, sagte Scholz weiter. Vereinbart wurden den Angaben zufolge auch erweiterte Zuständigkeiten der Bundespolizei und ein verbesserter Informationsaustausch zwischen Justiz- und Ausländerbehörden.
Haseloff freut sich über Teilschritt – Sachsen ernüchtert
Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) sah in den Ergebnissen des Flüchtlingsgipfels einen Teilerfolg. „Wir haben sicherlich einen Teilschritt erreicht. Damit meine ich nicht nur, dass wir eine Milliarde gegenüber dem ursprünglichen Nullangebot des Bundes mit eingebracht haben für die Kommunen“, sagte Haseloff am Mittwochabend der Deutschen Presse-Agentur. Vielmehr habe der Bund nun anerkannt, dass es sich um eine Daueraufgabe handelt, „weil er ja die Rahmenbedingungen für die Zuwanderung durch Grenzsicherung ja/nein, europäische Abstimmung, Schengen-Raum-Sicherung und alles Mögliche zu verantworten und in der Hand hat“, so der Ministerpräsident. Die Länder und Kommunen hätten da keine Kompetenzen.
Sachsens Regierung äußerte sich ernüchtert über die Ergebnisse. Die Länder seien mit großen Erwartungen nach Berlin gereist, erklärte Staatskanzleichef Oliver Schenk (CDU) am Mittwochabend. „Der Bund hatte die große Chance, gemeinsam mit den Ländern eine dauerhafte Lösung für die Frage der Finanzierung, aber auch der Steuerung und Begrenzung der Migration in Deutschland und Europa auf den Weg zu bringen. Leider war der Bund nicht dazu bereit, die entsprechenden Schlussfolgerungen mit den Ländern zu ziehen.“
Hamburgs Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) zeigte sich dagegen zufrieden. „Die Sitzung hat etwas länger gedauert als geplant, aber sie hat ein gutes Ende genommen“, sagte Tschentscher am Mittwochabend. Aus Hamburger Sicht habe es drei wesentliche Themen gegeben: die Finanzierung der Flüchtlingskosten, die Beschleunigung der Asylverfahren und die Verteilung der Geflüchteten innerhalb Deutschlands.
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Hamburgs Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD).
© Quelle: IMAGO/Fotostand
Daniel Günther: „Senden ein Signal in die richtige Richtung“
Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD) sah nach dem Gipfel einen ersten Teilerfolg für die Länder. „Wir sind uns einig, dass die Aufnahme von Flüchtlingen eine Daueraufgabe ist, wir sind uns auch einig, dass wir dafür ein Finanzierungssystem brauchen“, sagte Schwesig im Anschluss in Berlin. Aus ihrer Sicht habe der Bund anerkannt, dass höhere Flüchtlingszahlen höhere Zuschüsse zur Folge haben müssen.
Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) hielt die Forderungen der Länder bei der Finanzierung für noch nicht erfüllt. Das sagte er laut Mitteilung am Mittwochabend nach dem Treffen im Kanzleramt. Die Bund-Länder-Beschlüsse bezeichnete er zugleich als „weiteren Zwischenschritt zu einer gemeinsamen Flüchtlingspolitik in Deutschland“.
Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther (CDU) sprach nach dem Treffen von einem zähen Ringen mit dem Bund. „Dass wir schlussendlich ein Signal in die richtige Richtung senden konnten, war ein Verdienst von 16 Ländern“, sagte Günther am Mittwochabend. Die Ministerpräsidenten hätten an einem Strang gezogen und dem Bund klargemacht, dass die aktuellen Herausforderungen eine gemeinsame Aufgabe von Bund, Ländern und Kommunen seien.
Kritik von Paritätischem Gesamtverband
Der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands, Ulrich Schneider, fordert nach dem Flüchtlingsgipfel eine differenzierte Lösung für Kommunen. „Bei der Verteilung sollte die sehr unterschiedliche Finanzlage der Kommunen berücksichtigt werden, aber auch die allgemeinen Voraussetzungen zur Integration vor Ort. Manche Kommunen sind hoch verschuldet, andere schwimmen im Geld. An vielen Orten fehlt es an Unterbringungsmöglichkeiten, an anderen Orten stehen geeignete Gebäude leer“, sagte Schneider dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Er erwarte, dass die Suche nach sachgerechten unbürokratischen Lösungen Leitschnur der weiteren Verhandlungen werde. „Eine gute finanzielle Ausstattung der Flüchtlingsarbeit ist ein Gebot der Humanität“, betonte Schneider.
Deutliche Kritik übt der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands an den Plänen zur Zurückweisung Geflüchteter: „Überhaupt kein Verständnis haben wir dafür, wenn die Not schutzsuchender Menschen zum Anlass genommen wird, eine neue inhumane Abschiebe- und Abschottungspolitik sowie massive Verschärfungen in der Migrations- und Flüchtlingspolitik durchzusetzen.“ In ihrem Koalitionsvertrag kündige die Ampel an, dass sie das Leid an den Außengrenzen verhindern möchte. „Die aktuellen Pläne zielen in die entgegengesetzte Richtung. Wir erwarten, dass die Bundesregierung ihrer Verantwortung hier und in der EU gerecht wird und den gestern eingeschlagenen Kurs noch einmal korrigiert“, sagte Schneider.
RND/nis/sebs/dpa