Prozenthürde für Europawahlen geplant: Deutschen Kleinparteien droht das Aus
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Martin Sonneborn, Mitglied des Europäischen Parlaments für Die Partei.
© Quelle: Kay Nietfeld/dpa
Berlin. Ein Mandat im EU-Parlament als Satireprojekt: Noch ist das ein Ding der Möglichkeit und sogar Realität – zumindest in Deutschland, wo bei der jüngsten Wahl zwei Sitze an Die Partei um ihren Vorsitzenden Martin Sonneborn gingen. Künftig dürfte es für diese und andere Kleinparteien jedoch eng werden. Denn derzeit laufen gleich zwei Gesetzgebungsverfahren, die Deutschland erneut eine Prozenthürde für EU-Wahlen bescheren könnten. Diese würde voraussichtlich erstmals 2029 zum Tragen kommen.
Im ersten Fall geht es um die Umsetzung eines Beschlusses, den das EU-Parlament von 2018 verabschiedet hat. Der Beschluss sieht eine Sperrklausel zwischen 2 und 5 Prozent vor. Am Donnerstag wird ein entsprechender Gesetzentwurf für Deutschland erstmals im Bundestag beraten. Die Partei und die Freien Wähler könnten damit den Einzug noch schaffen, sollte es bei der minimal angepeilten Prozenthürde bleiben und sollten die Parteien ihre Ergebnisse von 2,4 und 2,2 Prozent wiederholen. Draußen wären hingegen Tierschutzpartei, ÖDP, Piraten, Familienpartei und Volt. Sie alle konnten 2019 jeweils einen Sitz für Deutschland im EU-Parlament ergattern, obwohl sie hierzulande weniger als 2 Prozent holten.
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So stößt die Operation „Sperrklausel“ aus dieser Richtung auch auf heftigen Gegenwind. „Das ist ein reiner Stimmenklau der größeren von den kleineren Parteien“, sagt Damian Boeselager, der für Volt im EU-Parlament sitzt. Ihm zufolge bewirkt eine Hürde eine Umverteilung von Stimmen: Da die Prozente jener Parteien verfallen, die es nicht ins Parlament schaffen, profitieren die größeren Parteien von einem entsprechend höheren Anteil an Mandaten.
In Polen und Ungarn wird man mit Spannung verfolgen, wie Deutschland EU-Recht missbraucht, um die Demokratie zu zerlegen.
Martin Sonneborn,
Vorsitzender der Partei Die Partei
Heftiger Gegenwind von Kleinparteien
Andere argumentieren, dass eine Sperrklausel verhindere, dass viele kleine Parteien in ein Parlament einziehen und so – mutmaßlich – dessen Arbeitsfähigkeit hemmen. Im EU-Kontext treffe das allerdings nicht zu, sagt Damian Boeselager, da sich die meisten Parteien ohnehin zu Fraktionen zusammenschließen. Tatsächlich schlossen sich acht von neun Abgeordneten, die deutsche Kleinparteien 2019 nach Straßburg entsandten, einer der sieben Fraktionen an.
Martin Sonneborn weist gegenüber dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) darauf hin, dass es in Deutschland schon einmal eine Fünfprozenthürde bei EU-Wahlen gab, die aber 2011 vom Bundesverfassungsgericht gekippt wurde. Eine anschließend eingeführte Dreiprozenthürde kassierte das Gericht 2014. Die Sperrklausel, begründeten die Richter, verletze die Grundsätze der Chancen- und der Wahlrechtsgleichheit. „Die Regierungskoalition beschädigt mit der Wiedereinführung die Autorität des Bundesverfassungsgerichts“, sagte Sonneborn dem RND. „In Polen und Ungarn wird man mit Spannung verfolgen, wie Deutschland EU-Recht missbraucht, um die Demokratie zu zerlegen.“
Prozenthürde über EU-Recht würde der deutschen Justiz den Zugriff erschweren
Denn während sich die Urteile des Bundesverfassungsgerichts von 2011 und 2014 auf Bundesgesetze bezogen, geht es beim neuerlichen Anlauf um die Umsetzung von EU-Recht – was den Zugriff der deutschen Justiz erschweren würde.
Mit ihrer Kritik dürften sich die Kleinparteien dennoch in der Minderheit befinden. „Die SPD-Fraktion unterstützt die vom Europäischen Parlament beschlossene Einführung einer Mindesthürde, so wie die beiden Koalitionspartner und wie auch die CDU/CSU-Fraktion“, sagte der zuständige Berichterstatter der SPD-Bundestagsfraktion, Jörg Nürnberger, dem RND.
Dass die Ampel mit der Unterstützung von CDU und CSU rechnen kann, ist durchaus relevant, denn damit der Gesetzentwurf in Kraft treten kann, müssen ihm Bundestag und Bundesrat mit Zweidrittelmehrheit zustimmen. Das wolle man in Deutschland noch vor der Sommerpause abhaken, sagt Nürnberger.
Das wäre ein Gesetz nur für Deutschland. Das ist wirklich ein Skandal.
Damian Boeselager,
Abgeordneter der Partei Volt
Europawahl 2024 auf keinen Fall mit Sperrklausel
Auch dann fehlt jedoch noch die Zustimmung von Zypern und Spanien. Denn um den Beschluss des Europäischen Parlaments umzusetzen, müssen erst alle Mitgliedstaaten ihr „Go“ geben. Spätestens deshalb wird es in Deutschland bei der nächsten Europawahl, die 2024 ansteht, wohl noch keine Sperrklausel geben.
Noch langfristigere Schatten wirft eine geplante Reform des EU-Wahlaktes voraus, mit der das Parlament im Mai 2022 begonnen hat. Eine darin angepeilte 3,5-Prozent-Hürde soll nur für Länder mit mindestens 60 Sitzen im EU-Parlament gelten – außer Deutschland sind das Frankreich und Italien, die beide bereits Sperrklauseln haben. Damian Boeselager findet noch einmal deutliche Worte: „Das wäre ein Gesetz nur für Deutschland“, sagt der Parlamentarier. „Das ist wirklich ein Skandal.“