„Im Baltikum und in Polen ist man natürlich supernervös“
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Hans-Lothar Domröse, General a. D., als Kommandeur eines Nato-Kommandos 2015 in Estland.
© Quelle: picture alliance / dpa
Hat der tödliche Raketeneinschlag in Polen Europa an den Rand des Dritten Weltkriegs gebracht? Die öffentliche Diskussion war zwar hitzig, Nato-Militärs dagegen hätten sehr professionell und besonnen reagiert, sagt Hans-Lothar Domröse, General a. D. und früher Befehlshaber eines Nato-Kommandos im Interview mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND).
Als ehemaliger hoher Nato-General – wie dramatisch war und ist der Vorfall in Polen?
Domröse: Ich war gerade auf einer von internationalen Militärs besuchten Konferenz in der litauischen Hauptstadt Vilnius, im Baltikum ist man natürlich supernervös. Zumal im Nachbarland Polen. Jetzt tritt da nach einer Nacht der Aufregung eine gewisse Entschärfung der Situation ein. Was bleiben wird ist vor allem in Osteuropa die Erkenntnis, dass dieser Krieg hier längst angekommen ist, jetzt sogar mit zwei toten Zivilpersonen. Im Unterschied zu dieser aufgeregten öffentlichen Wahrnehmung herrscht unter den Nato-Generälen und Admiralen aber eine gewisse professionelle Routine. Die Ausrufung von Artikel 4 des Bündnisses wurde zumindest diskutiert.
Was heißt das? Viele mutmaßen hier bereits eine Lightversion des berüchtigten Artikels 5, des Beistandspaktes, der ja bedeutet, ein Angriff auf einen Bündnispartner kommt einem Angriff auf alle gleich.
Die Ausrufung von Artikel 4 ist im Bündnis keine Seltenheit. Es ist Routine, sich bei bestimmten Krisen zusammenzusetzen, um das zu diskutieren. Artikel 4 besagt ja nur, dass Konsultationen der 30 Mitgliedsstaaten nötig sind, sobald ein Partner die Unversehrtheit seines Gebietes, die politische Unabhängigkeit oder die Sicherheit bedroht sieht. Konkrete Reaktionen sind danach überhaupt nicht zwingend. Artikel 4 ist übrigens eine sehr sinnvolle Maßnahme, weil der dem Bündnis den Freiraum bietet, einen Vorfall sehr gründlich zu untersuchen und gegebenenfalls Maßnahmen einvernehmlich im Bündnis zu beratschlagen.
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Haben Sie den Eindruck, die Nato-Staaten reagieren sehr dünnhäutig auf solche Vorfälle?
Absolut nicht. Man darf öffentliche Debatten wie in den osteuropäischen Staaten oder in Deutschland nicht mit der Reaktion der Verantwortlichen gleichsetzen. Gerade in Polen war das ein riesiges Thema, das liegt aber auch im Kalkül der dortigen PiS‑Regierung. Verantwortliche Militärs haben dagegen sehr kühl, abwägend und besonnen reagiert. Ich selbst halte einen russischen Angriff auf ein Nato-Land für nahezu ausgeschlossen.
Putin, der nicht einmal mit der Ukraine fertigwird, wird sich doch nicht mit der ultramodernen Nato anlegen. Die Amerikaner haben die technischen Möglichkeiten, den Flug dieser S‑300, die in Polen zwei Menschenleben gekostet hat, sehr genau nachzuverfolgen. Es wird zeitnah eine Klärung dieses Vorfalls geben.
Aber was wäre passiert, hätte es sich um einen russischen Irrläufer gehandelt?
Auch für den Fall eines „crazy Colonels“, wie wir das nennen, also dass da ein durchgeknallter Oberst auf den Auslöser drückt, haben wir Sicherheitsvorkehrungen in Form von Kommunikationskanälen zur anderen Seite.
Hans-Lothar Domröse, General a. D. und früherer Befehlshaber eines Nato-Kommandos
Auch das hätte nicht automatisch zum Bündnisfall geführt. Dann hätte es einen Austausch von Protestnoten gegeben. Nach einem Irrläufer appelliert man an die andere Seite, solche Risiken künftig zu vermeiden. Auch für den Fall eines „crazy Colonels“, wie wir das nennen, also dass da ein durchgeknallter Oberst auf den Auslöser drückt, haben wir Sicherheitsvorkehrungen in Form von Kommunikationskanälen zur anderen Seite.
Kein Strom, kein Wasser und keine Heizung in Cherson – „aber auch keine Russen“
Die Lage in der Stadt im Süden der Ukraine ist extrem schwierig. Aber die Menschen zeigen sich dennoch sehr erleichtert.
© Quelle: Reuters
Sie sind gerade auf einer Konferenz oder besser einem Lehrgang von 30 aktiven Nato-Generälen im Rahmen des Baltic Defence College – wie ist der Blick der Profis auf die gegenwärtige Situation im Ukraine-Krieg vor dem Hintergrund der kürzlichen Befreiung Chersons?
Die Militärs freuen sich über die ukrainischen Erfolge und sind einhellig überrascht, wie stümperhaft Russland in diesem Angriffskrieg operiert. Aber keiner der Militärs gibt sich der Illusion hin, dass dieser Krieg bald endet. Auch die Eroberung von Cherson hat an dieser Überzeugung nichts geändert. Die Russen haben sich ja geordnet zurückgezogen und ihre Truppen und das Equipment evakuieren können, daher hat die Niederlage von Cherson sie zwar strategisch geschwächt, ihr militärisches Vermögen aber kaum beeinträchtigt.
Wahrscheinlich droht ein „frozen conflict“
Überwiegend sind die Generäle und Admirale überzeugt, dass dieser Krieg irgendwann auf einen „frozen conflict“, einen gefrorenen Konflikt also, hinauslaufen wird. Weil die Ukraine wohl kaum die Kraft hat, alle von Russland besetzten Gebiete zu befreien. Bis es zu Verhandlungen kommt, die von der russischen Seite nicht als eine Art Diktat geführt werden, wird vermutlich noch sehr viel Zeit vergehen. Bedrohlich werden die russischen Angriffe auf die kritische Infrastruktur der Ukraine wahrgenommen – die Zerstörung von Kraftwerken, Verteilerstationen, Raffinerien, Wasser- und Gasleitungen. Das wird die Moral der Ukrainer einer schweren Probe unterziehen.