100 Jahre alt

Altmeister Henry Kissinger: brillant und skrupellos zugleich

Henry Kissinger, ehemaliger Außenminister der USA, spricht 2014 bei einem Abendessen mit der damaligen Verteidigungs­ministerin von der Leyen im American Council on Germany (ACG) in New York.

Henry Kissinger, ehemaliger Außenminister der USA, spricht 2014 bei einem Abendessen mit der damaligen Verteidigungs­ministerin von der Leyen im American Council on Germany (ACG) in New York.

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Washington. Henry Kissinger ist vielleicht der berühmteste Diplomat in der Geschichte der USA. Lange, nachdem sich der Deutsch-Amerikaner aus der Politik zurückgezogen hatte, suchten Spitzenpolitiker noch seinen Rat. Und noch heute teilt Kissinger, der am Samstag (27. Mai) 100 Jahre alt wird, gern seine Meinung zu unterschiedlichen internationalen Themen mit der Welt. Doch der ehemalige US-Außenminister ist eine kontroverse Figur. Loben ihn die einen als brillanten Realpolitiker mit Verhandlungs­geschick, sehen ihn andere als skrupellosen Macht­menschen – ja gar als Kriegsverbrecher.

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Kissinger ist mittlerweile schwerhörig und auf einem Auge blind. Er hat mehrere Herzoperationen hinter sich. Doch geistig ist er immer noch topfit – auch wenn er seine Gedanken langsam und manchmal schwer verständlich formuliert. „Ich denke, dass wir bis Ende des Jahres über Verhandlungs­prozesse und sogar tatsächliche Verhandlungen sprechen werden“, sagte er jüngst in einem Interview im US-Fernsehen über den russischen Angriffskrieg in der Ukraine. Auch an Selbst­bewusstsein mangelt es ihm nicht. Er antwortete auf die Frage, ob Chinas Präsident Xi Jinping den Hörer abheben würde, sollte Kissinger ihn selbst anrufen: „Die Chancen stehen gut, dass er meinen Anruf annimmt.“ Das gelte auch für Kremlchef Wladimir Putin.

Sicherheitsberater von Präsident Nixon

Geboren wurde Kissinger am 27. Mai 1923 als Heinz Alfred Kissinger in Fürth, Sohn eines deutsch-jüdischen Ehepaares. 1938 floh die Familie vor den Nazis in die USA. Kissinger wuchs dann in New York auf. Es heißt, als Jugendlicher sei er so schüchtern gewesen, dass er kaum sprach. Das könnte erklären, warum Kissinger bis heute einen starken deutschen Akzent hat. Er wurde nach der US-Einbürgerung 1943 zum Militärdienst eingezogen, kämpfte in den Ardennen und arbeitete dann in Deutschland für die US-Spionage­abwehr.

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Nach der Rückkehr studierte er mithilfe von Stipendien an der Eliteuniversität Harvard Politik­wissenschaften und promovierte 1954. In den Folgejahren lehrte er an der Uni und machte sich als Spezialist für internationale Politik einen Namen. 1969 holte ihn der republikanische Präsident Richard Nixon als Sicherheits­berater ins Weiße Haus. Später wurde er gleichzeitig Außen­minister – und blieb zumindest Letzteres auch unter Nixons Nachfolger Gerald Ford. Kissinger prägte die sogenannte Pendel­diplomatie – reiste zwischen Hauptstädten hin und her und verhandelte zwischen Konflikt­parteien. Als Außenminister war er eine Art Berühmtheit, bekannt für sein Macht­bewusstsein und seine Frauen­geschichten.

Ein Cowboy, der die Kolonne anführt

Kissinger hat viele Erfolge vorzuweisen. Er suchte Entspannung mit China und der Sowjetunion, stiftete Frieden in Nahost und bemühte sich um Abrüstung. So fädelte er in Geheim­gesprächen in der damaligen UdSSR das erste Abkommen zur strategischen Rüstungs­begrenzung (Salt I) ein. Außerdem verhandelte er 1973/1974 das Ende des Jom-Kippur-Krieges aus. Es sind beeindruckende Errungenschaften. Für viele gilt Kissinger bis heute als außenpolitisches Genie.

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Das ist die eine Seite der Geschichte. Kritiker sehen in ihm allerdings einen Machtpolitiker ohne Moral, der auch Diktaturen unterstützte – solange es nur seinen Interessen nützte. Dabei, so der Vorwurf, habe der Zweck die Mittel geheiligt. Er galt damals als zunehmend selbstherrlich und verschlossen. In einem Interview aus dem Jahr 1972 verglich er sich mit einem Cowboy, der allein voranreitet und die Kolonne anführt. Später bereute er diese Worte.

Umstrittene Rolle für Vietnam und Kambodscha

Neben den außenpolitischen Erfolgen gibt es eine ganze Liste an Kriegen und Krisen, in denen Kissinger eine mindestens zweifelhafte Rolle spielte. Da ist zum einen der Vietnam-Krieg: Kissinger soll 1968 einen nahen Friedens­schluss verhindert haben, um Nixon zum Wahlsieg zu verhelfen. 1973 mündeten seine jahrelangen Geheim­verhandlungen mit dem nord­vietnamesischen Unterhändler Le Duc Tho schließlich in einen Friedens­vertrag. Beiden wurde der Friedens­nobelpreis zugesprochen – obwohl der Krieg noch bis 1975 weiterging. Kissinger nahm den Preis an, Le Duc Tho nicht.

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Umstritten ist, welche Rolle Kissinger konkret bei der geheimen Bombardierung Kambodschas während des Vietnam-Kriegs spielte. Kritiker werfen ihm vor, dass die Folgen seines Vorgehens der Roten Khmer in dem Land in Südostasien zur Macht verholfen haben. Auch die Unterstützung der blutigen Invasion Indonesiens in Osttimor 1975 ist ein dunkler Fleck in Kissingers außenpolitischer Karriere. Zusammen mit dem US-Geheimdienst CIA soll er 1973 außerdem in den blutigen Putsch von General Augusto Pinochet gegen Chiles gewählten sozialistischen Präsidenten Salvador Allende verstrickt gewesen sein.

Bis heute ein gefragter Redner

Kissinger erhielt Vorladungen von Gerichten in verschiedenen Ländern, erschien aber nie. Von den Vorwürfen gegen ihn will er bis heute nichts wissen. Auf die Kritik – und speziell Kambodscha – angesprochen, reagierte er in einem Interview für das US-Fernsehen ungehalten. Das Thema der Sendung sei doch, dass er 100 Jahre alt werde, schimpfte er. Und nun komme man mit einer 60 Jahre alten Sache um die Ecke. Die jüngere Generation, die ihn verurteilt, stellte er als ignorant dar.

Nach Nixons Rücktritt blieb Kissinger Außenminister – die politische Bühne verließ er dann nach dem Amtsantritt des demokratischen Präsidenten Jimmy Carter 1977. Doch der Rückzug aus der aktiven Politik bedeutete für Kissinger nicht, sich aus der Öffentlichkeit zurückziehen. Er gründete eine Beraterfirma, schrieb mehrere Bücher und ist trotz seines hohen Alters bis heute ein gefragter Redner, wenn es um außenpolitische Einschätzungen geht.

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RND/dpa

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