Gedenken an die Reichspogromnacht

Holocaust-Überlebende auf Tiktok oder in 3-D: „Das ist ein zorniger Aufschrei“

Christoph Heubner, Vizepräsident des Internationalen Auschwitz Komitees, bei der Eröffnung einer Zaunausstellung zum Gedenken an Sophie Scholl.

Christoph Heubner, Vizepräsident des Internationalen Auschwitz Komitees, bei der Eröffnung einer Zaunausstellung zum Gedenken an Sophie Scholl.

Berlin. Der Schriftsteller Christoph Heubner (73) ist Vizepräsident des Internationalen Auschwitz Komitees (IAK). Er setzte sich vor allen für die Entstehung der Internationalen Jugendbegegnungsstätte in Oświęcim/Auschwitz ein.

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Christoph Heubner, Sie sind Vizepräsident des Internationalen Auschwitz Komitees. Was halten Sie von virtuellen Holocaust-Zeitzeugen und Tiktok-Tänzen Überlebender?

Diese Aktivitäten von Überlebenden sind der Erkenntnis geschuldet, dass sie in einer Zeit leben, in der man längst wieder in eine Richtung abgebogen ist, die ihnen allergrößte Sorgen bereitet und sie zornig macht. Es ist ein Glück, dass häufig Enkel und Urenkel diese Entwicklung vorantreiben. Gidon Levs Botschaft auf Tiktok ist immer wieder: Ich bin noch da! Das ist kein Fingerheben wie in der Schule. Das ist ein zorniger Aufschrei, damit gehört wird, wohin es führen kann, was mancherorts schon wieder zu beginnen scheint.

Hat das auch mit dem Versagen von Bildung zu tun?

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Kenntnisse über den Holocaust werden in der Schule jedenfalls nicht mehr hinreichend vermittelt und schwinden. In einer Zeit, in der rechte Parteien weltweit auftrumpfen oder wie in Italien Faschisten mit an die Macht kommen, ist diese Entwicklung nahezu grotesk.

Also nehmen es die Überlebenden selbst in die Hand?

Man darf nicht vergessen: viele Überlebende schweigen über ihre Erlebnisse bis zum Tod. Die sich entschieden haben, Zeugnis abzulegen, nutzen auch neue Möglichkeiten. Sie haben den Anspruch, eine Gedenkstätte zu sein. Sie wissen, dass sie emotionale Anstöße geben, die zwar mit Fakten ergänzt werden müssen, aber durch ihre Authentizität ein besonderes Gewicht haben.

Die neuen Technologien machen einiges möglich: Zeitzeugen in virtuellen Räumen oder Tiktok-Videos mit allen möglichen Effekten. Sehen Sie Grenzen der Selbstdarstellung von Holocaust-Überlebenden?

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Ich gehe davon aus, dass alle wissen, was sie tun. Die Akteure, die ich kenne, sind nicht naiv. Persönlich sehe ich dort Grenzen, wo Überlebende zum Objekt werden, zum Beispiel, wenn ich sie virtuell in mein Wohnzimmer setzen könnte. Nicht alles, was man machen kann, sollte man tun.

Im Münchner Hologramm-Projekt kann man Abba Naor fragen, ob er Hitler getroffen hat. Ist das sinnvoll?

Na ja, ich halte dies für ähnlich sinnvoll, wie Tarantinos Film „Inglourious Basterds“. Aber es sind eben Fragen, die Jugendliche haben. Die Wahrheit ist komplexer, weil die Überlebenden denkende Menschen sind und nicht Algorithmen, die Antworten zusammensetzen. Ich muss bei diesem Thema immer an den 2015 verstorbenen Josef Paczynski denken …

Der Holocaust-Überlebende Abba Naor als virtueller Zeitzeuge, den man befragen kann.

Der Holocaust-Überlebende Abba Naor als virtueller Zeitzeuge, den man befragen kann.

… der als polnischer KZ-Häftling drei Jahre lang Auschwitz-Kommandant Rudolf Höß frisieren und rasieren musste …

Genau. Ich habe ihn mal gefragt, ob er nicht Lust verspürt hätte, das Rasiermesser am Hals von Höß richtig durchzuziehen. Seine Antwort war: Ich habe Höß rasiert wie einen aufgeblasener Luftballon, weil mir klar war, wenn ich ihn auch nur ritze, habe nicht nur ich einen sehr schlechten Tag. Aber um auf Ihre Frage nach der Sinnhaftigkeit zurückzukommen: Manche Antworten sollte vielleicht nur jemand aus Fleisch und Blut geben. Man muss auch akzeptieren, dass etwas aufhört mit dem Tod der Überlebenden.

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Sie meinen den Verlust der Authentizität bei der Übermittlung von Holocaust-Geschichte?

Das wird sich zeigen. Ich bin da sehr gespannt, welche Rolle ganz altmodische Filme oder Serien auf Netflix oder anderen Streamingdienste spielen werden. Aus dem, was die Überlebenden an Geschichten hinterlassen haben, kann man genügend wahre Geschichten erzählen.

Ist die Generation Z in Zeitzeugen-Gesprächen anders als Generationen vor ihr?

Ich kann das nicht feststellen. Der Umgang mit den Überlebenden ist sehr zart. Es ist, als würden die Jugendlichen ihnen eine schützende Hülle umlegen, weil sie irgendwann in dem Gespräch verstehen, wie weh man den Opfern getan hat und wie tief der Schmerz immer noch sitzt. Was sich verändert hat? Manchmal sind die Fragen unbefangener. Vor ein paar Monaten erlebte ich, wie eine junge Frau, sie war vielleicht 17, eine Überlebende fragte, wie das eigentlich mit ihrer Periode im Lager war. Das hat es vor Jahren noch nicht gegeben. Die ältere Dame aber freute sich über die Frage und beantwortete sie gern. Man könnte sagen, die heutige Generation ist vielleicht etwas unpolitischer, dafür aber praktischer als die vorherige.

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