34 Prozent „gefühlte Inflation"

Warum wir die Inflation als höher einschätzen, als sie ist

Die Preise kennen gerade nur eine Richtung: nach oben.

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34 Prozent – so hoch schätzen Verbraucherinnen und Verbraucher in einer aktuellen Kurzstudie die Inflation. Gefühlte Inflation nennen Ökonominnen und Ökonomen das. Die amtlich gemessene Inflationsrate wird aktuell mit 7,9 Prozent angegeben. Das Ideal der Europäischen Zentralbank (EZB) wäre eine Inflation von etwa 2 Prozent.

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Autor der Kurzstudie ist Johannes Treu, Ökonom und Professor für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre an der IU Internationalen Hochschule. Im RND-Interview erklärt er, warum Verbraucherinnen und Verbraucher die Inflation so hoch einschätzen – und welche Folgen eine erhöhte Inflationserwartung auf die Wirtschaft haben könnte.

Herr Treu, in der Betriebs- und Volkswirtschaftslehre unterscheidet man unter anderem zwischen der amtlichen und „gefühlten“ Inflation. Was bilden die beiden Indizes ab?

Eine gefühlte Inflation ist letztendlich nichts weiter als die subjektive Wahrnehmung von Preissteigerungen. Dem steht die amtlich gemessene Inflation gegenüber: Diese wird über einen repräsentativen Warenkorb gemessen. Darin befinden sich zwölf Warengruppen – von Nahrungsmitteln über Bekleidung, Technik, Bildungswesen, Gesundheitsausgaben oder Reisen. Dieser Warenkorb soll einen durchschnittlichen Haushalt abbilden. In der Realität kauft man aus diesem repräsentativen Warenkorb aber nicht jeden Monat alle Waren.

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In Ihrer aktuellen Studie geben die Befragten eine gefühlte Inflation von 34,2 Prozent an – die amtlich gemessene Inflation liegt laut dem Statistischen Bundesamt bei 7,9 Prozent. Die Preise für Nahrungsmittel waren im August 2022 tatsächlich 16 Prozent höher als im Vorjahresmonat. Trotzdem empfinden Verbraucherinnen und Verbraucher die Inflation erheblich stärker. Woran liegt das?

Verbraucherinnen und Verbraucher nehmen die Inflation subjektiv wahr. Bei Waren, die wir täglich konsumieren oder mit denen wir sehr oft in Berührung kommen, bemerken wir Preissteigerungen stärker – etwa beim Einkaufen, Tanken oder bei den Energiepreisen. Auch bei anderen Waren oder Dienstleistungen des täglichen Bedarfs bemerkt man die steigenden Preise stark, beispielsweise beim Friseurbesuch. Einmal im Monat lasse ich mir die Haare schneiden. Das kostete erst noch 17,50 Euro, dann 18,50 Euro – mittlerweile sind es 21,50 Euro. Die amtliche Inflation umfasst hingegen viel mehr Warengruppen als nur diese Waren des täglichen Bedarfs. Und generell nehmen Verbraucherinnen und Verbraucher Preissteigerungen viel stärker wahr als sinkende oder gleichbleibende Preise.

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Inwiefern hängen das Haushaltseinkommen und die gefühlte Inflation zusammen? Schätzen Menschen mit niedrigem Einkommen die Inflation höher ein?

Ja, da gibt es eine negative Korrelation. Wir haben also eine höhere gefühlte Inflation bei geringerem Haushaltsnettoeinkommen.

Die gefühlte Inflation beeinflusst auch unsere Inflationserwartungen. Die große Mehrheit sieht in Ihrer Studie bei der Inflation kein Ende. 82,4 Prozent der Befragten (Frauen: 85,9 Prozent; Männer: 78,8 Prozent) rechnen damit, dass die Preise für Waren und Dienstleistungen im Oktober „viel höher“ oder „höher“ liegen als im September. Warum sind diese hohen Erwartungswerte problematisch?

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Wenn ich hohe Inflationserwartungen habe und mein Lohn gleichbleibt, dann stelle ich fest, dass ich mir am Ende weniger Waren und Dienstleistungen leisten kann. Also denke ich: Mein Nominallohn muss mindestens um meine Inflationserwartungen steigen. Mit diesen Inflationserwartungen gehe ich oder meine Gewerkschaft in Lohnverhandlungen. Das könnte aber zu einer Lohn-Preis-Spirale führen: Durch höhere Löhne steigen auf Unternehmensseite die Produktionskosten für Waren und Dienstleistungen und werden über höhere Preise wieder an die Konsumentinnen und Konsumenten weitergegeben. Also gehe ich in die nächste Gehaltsverhandlung wieder mit einer höheren Preissteigerungserwartung und fordere wieder einen höheren Lohn – eine Spirale.

Sollte ich mein Gehalt also gar nicht mehr verhandeln? Marcel Fratzscher, Ökonom und Leiter des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, argumentiert, dass die große Angst vor der Lohn-Preis-Spirale Unsinn ist. Vor allem Menschen mit niedrigem und mittlerem Einkommen bräuchten angemessene Lohnerhöhungen, um gegen die Inflation geschützt zu sein und ihren Konsum aufrechterhalten zu können.

Eigentlich sollten die Löhne so steigen, wie die Produktivität der Unternehmen steigt. Produktivitätsneutrale Lohnsteigerung ist das Schlagwort. Aber wir haben immer eine Zeitverschiebung zwischen Preissteigerung und Lohnsteigerung. Die Preissteigerungen im Supermarkt oder an der Tankstelle gehen sehr schnell. Marcel Fratzscher hat aber schon recht: Menschen mit niedrigem Einkommen brauchen diese Lohnsteigerung, damit sie am sozialen Leben und am Konsumleben teilhaben können. Der Binnenkonsum selber ist eine ganz entscheidende Komponente für das Wirtschaftswachstum.

Johannes Treu ist Professor für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre an der IU Internationalen Hochschule.

Johannes Treu ist Professor für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre an der IU Internationalen Hochschule.

Sie haben in der Kurzbefragung auch erhoben, woran Menschen in Deutschland aktuell sparen: Der stärkste Verzicht liegt demnach etwa in den Bereichen Energie, Reisen und Hausrat, also Möbel oder Deko. Am wenigsten sparen die Befragten bei Bildung und Unterhaltung. Haben Sie diese Ergebnisse überrascht?

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Wir haben schon erwartet, dass die Befragten sich bei Wasser, Strom und Gas einschränken wollen. Auch durch die Medien ist präsent, dass man nicht nur im Rahmen der Energiekrise sparen soll, sondern auch, weil die Preissteigerungen in dem Bereich besonders hoch sind. Auch Hausrat, Möbel und Dekoration sind Dinge, die man nicht alltäglich kauft und bei denen man sich stark einschränken kann. Dass die Menschen bei Reisen, Urlaub und Freizeitaktivitäten sparen, hatten wir ebenfalls erwartet. Überraschend finde ich, dass die Befragten sich nicht besonders stark bei alkoholischen Getränken und Tabakwaren einschränken, wobei gerade beim Tabak das Suchtpotential eine Rolle spielt. Auch bei Unterhaltung sparen die Befragten bislang nicht so stark wie in anderen Bereichen. Vielleicht möchte man sich in so unsicheren Zeiten eher ablenken lassen. Gleichzeitig liegt auch hier Einsparpotential: Brauche ich drei Streamingdienste gleichzeitig? Vielleicht nehmen Verbraucherinnen und Verbraucher da aber auch noch keine Preissteigerungen wahr.

Zum Thema Bildung muss man sagen: Da schränken sich die meisten natürlich auch nicht so stark ein. Einerseits, weil Bildung bei vielen Menschen einen hohen Stellenwert hat, andererseits, weil sie nicht direkt im Portemonnaie spürbar ist. Aus persönlicher Sicht finde ich es aber sehr klug, wenn Leute nicht an Bildung, vor allem Weiterbildung, sparen. Gut ausgebildete Personen haben eine höhere Widerstandsfähigkeit gegen Schocks und ökonomische Krisen und verfallen vielleicht weniger in Panik. Auch zeigen internationale Studien, dass gut ausgebildete Personen eine geringere gefühlte Inflation haben. Dies spricht zum Beispiel auch dafür, die finanzielle Allgemeinbildung in der Gesellschaft zu verbessern. Gleichzeitig ist Bildung auch ein guter Schutz gegen Arbeitslosigkeit und Garant für einen guten Lohn.

Frauen machen sich in Ihrer Befragung im Vergleich zu Männern etwas mehr Sorgen, beziffern die gefühlte Inflation höher und schränken sich stärker ein, also sparen mehr. Woran könnte das liegen?

Das Warum haben wir in der Studie nicht abgefragt, ich kann nur Hypothesen aufstellen. Möglicherweise haben die Geschlechterrollen einen Anteil daran: Frauen machen vielleicht häufiger den Wocheneinkauf. Möglich ist auch, dass Frauen eine höhere Konsumpräferenz haben und lieber einkaufen als Männer, wodurch sie mehr Kontakt zu Preisen haben und Änderungen bemerken. Es könnte auch eine emotionale Komponente geben, dass Frauen eher den Blick in die Zukunft richten und sich mehr Sorgen machen als Männer. Aber das müsste man in einer extra Studie untersuchen. Die Ergebnisse haben uns auch überrascht.

Laut Ihrer Erhebung machen sich 90 Prozent der Befragten angesichts steigender Preise Sorgen, 54,6 Prozent sogar „große Sorgen“. Wie kann ich mit der Angst vor Inflation umgehen und meine Inflationserwartungen senken?

Eines der wichtigsten Dinge ist: Ruhe bewahren, nicht hysterisch werden und keine Angst haben. Angst ist ein schlechter Lehrmeister. Es ist schon richtig, einen gewissen Respekt vor Inflation zu haben. Aber Wissen um das Phänomen Inflation kann helfen, weniger Angst zu haben: Wodurch wurde die Inflation ausgelöst, wie kann ich damit umgehen und sie bekämpfen? 2012 sagte der damalige EZB-Chef Mario Draghi, dass er den Euro retten werde, koste es, was es wolle. Politische Entscheidungsträger können mit ehrlich gemeinten Aussagen wie diesen die Inflationserwartungen der Bevölkerung senken.

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„Inflation ist wie Zahnpasta“, so zitiert man gern den ehemaligen Bundesbank-Präsidenten Karl Otto Pöhl. Wenn sie einmal raus sei aus der Tube, gehe sie schwer wieder zurück. Das stimmt, aber wir werden das Problem schon gelöst bekommen. Das geht nicht von heute auf morgen, sondern kann auch mal zwei, drei oder vier Jahre dauern. Da braucht es Geduld und das Vertrauen darauf, dass die Zeiten auch wieder besser werden.

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